Wikingers Weihnacht

Halb verwest und erbärmlich stinkend – Gammelrochen sind genau das Richtige für Islands Gourmets

In der Adventszeit liegt anderenorts der Duft von Zimt und Keksen in der Luft. In Isarfjördur im äußersten Nordwesten Islands erfüllt beißender Gestank die Wohnstuben. Es ist der Tag vor Weihnachten. Selbst Hafenmeister Halldór Hermansson, gewiss nicht zimperlich, zuckt kurz mit der Nase, als er die Zutaten für sein Feiertagsmenü aus der Plastiktüte quillen lässt. Und auch er zieht lieber Gummihandschuhe an beim Zubereiten seiner geliebten Delikatesse: halb verweste, bräunliche Fischplacken. Gammelrochen.

Was jedem Festlandseuropäer den Magen umdreht, ist in Island schon seit Jahrhunderten weit verbreitete Sitte: Am Tag vor Weihnachten speist die ganze Familie „Kaest Skata“, fermentierten Rochen. Dabei ist der Fisch eigentlich hochgiftig, völlig ungenießbar, weil er, ähnlich wie der Hai, die Harnsäure nicht über die Nieren ausscheidet, sondern im eigenen Fleisch ablagert. Irgendwann aber in Zeiten der Hungersnot muss ein Isländer mit der Todesverachtung eines Wikingers herausgefunden haben, dass man Rochen doch essen kann, wenn man ihn nur lange genug rotten lässt.

Wenigstens vier Wochen brauchen die Giftstoffe, um sich im Aas zu verflüchtigen. Ungeduld habe früher nicht wenige Menschen ins Grab gebracht, berichtet der österreichische Regierungsrat Joseph Calasang Poestion in seinem 1885 erschienenen Werk „Island – Das Land und seine Bewohner nach den neuesten Quellen“.

Ohnehin haben die Isländer einen wundersamen Geschmack. Etwa das Fischgrätenfrikassee: in saurer Molke aufgelöste Kabeljaugräten, die so lange gekocht werden, bis ein dicker Brei entsteht. Oder der zehnagelharte Trockenfisch, den es an jeder Tankstelle als Snack zu kaufen gibt, gleich neben den Schokoriegeln. Nicht zu vergessen: sauer eingelegter Walspeck, ein beliebtes zweites Frühstück. Sprachlos staunt der Island-Besucher über jene weißlichen, glibschig-speckigen Würfel, die sich die Einheimischen wie Gummibärchen im halben Dutzend aus Plastikbechern fingern: roher, wochenlang abgehangener und bestialisch stinkender Eishai. Sehr gut für die Verdauung, heißt es. Mit nichts zu vergleichen allerdings ist der Gammelrochen. Ein Wintergericht, wie hier zu Lande Grünkohl. Nun, ein bisschen grünlich ist der Fisch mit der Zeit ja auch geworden.

Halldór kriegt seinen immer geschenkt. Die Rochen gehen den Fischern als Beifang ins Netz und meist gleich wieder über Bord. Sind ja schließlich giftig. Aber jetzt, in der Vorweihnachtszeit, bringen die Fischer schon einmal einen Eimer voll mit. Die Zubereitung ist denkbar simpel: den Fisch im Bottich verenden lassen, dann bei konstanter Temperatur lagern. Nicht wässern, nicht umschichten, Katzen und Kinder fern halten. Als Hafenmeister kennt Halldór natürlich einen Ort, an dem die olfaktorischen Begleiterscheinungen des Zersetzungs- und Fermentierungsprozesses geduldet werden. In der kleinen Fischfabrik von Freunden kann er seinen Rochen verwesen lassen, ohne dass der Familienrat oder Nachbarn mit Protest und Prügel drohen. Nach vier, fünf Wochen ist die Delikatesse reif.

Halldórs Augen glänzen voller Vorfreude, als er das welke Fleisch auf den Metalltisch glitschen lässt, an dem sonst im Akkord Dorsch und Schellfisch seziert werden. Mit der Kneifzange reißt er die warzige Rochenhaut herunter. In der heimischen Küche kocht Halldór dann den Gammelrochen in Salzwasser weich und schiebt das weiße Fleisch von den Knochenplatten. Der Gestank ist infernalisch. Das Erhitzen setzt Ammoniak in solchen Mengen frei, dass der um Atem ringende Besucher nachzusinnen beginnt, ob Island je die Haager Landkriegsordnung für die Ächtung von Gas ratifiziert hat.

Als nächstes verrührt Halldór Hermansson den Rochenbrei mit ausgelassenem Schafsfett zu einer zähen, weißen Paste. Würzen? Nicht nötig, allenfalls ein bisschen Salz. Nun die Probe. „Streng“ ist kein Ausdruck für dieses Aroma. Tischtuchbleich und der Ohnmacht nahe, kämpft der Weihnachtsgast mit sich. Der Anstand gebietet, ein paar Happen mitzuessen. Die Nase verlangt, sofort das Haus zu verlassen.


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mare No. 47

No. 47Dezember 2004 / Januar 2005

Von Ralf Quibeldey

Ralf Quibeldey, Jahrgang 1964, leitet beim NDR die Sendung mareTV, für die er in Island einen Beitrag über Eishai und Gammelrochen drehte. Als er Wochen nach seiner Rückkehr die Reisekosten einreichte, beschwerte sich die Buchhaltung über den seltsamen Gestank der Quittungen.

Ragnar Axelsson, Rax, Jahrgang 1958, ist ein isländischer Fotojournalist, der die letzten 30 Jahre damit verbracht hat, Menschen, Wetter und Landschaft in einigen der abgelegensten und isoliertesten Regionen der Arktis zu fotografieren, darunter Island, Grönland und Sibirien.

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Vita Ralf Quibeldey, Jahrgang 1964, leitet beim NDR die Sendung mareTV, für die er in Island einen Beitrag über Eishai und Gammelrochen drehte. Als er Wochen nach seiner Rückkehr die Reisekosten einreichte, beschwerte sich die Buchhaltung über den seltsamen Gestank der Quittungen.

Ragnar Axelsson, Rax, Jahrgang 1958, ist ein isländischer Fotojournalist, der die letzten 30 Jahre damit verbracht hat, Menschen, Wetter und Landschaft in einigen der abgelegensten und isoliertesten Regionen der Arktis zu fotografieren, darunter Island, Grönland und Sibirien.
Person Von Ralf Quibeldey
Vita Ralf Quibeldey, Jahrgang 1964, leitet beim NDR die Sendung mareTV, für die er in Island einen Beitrag über Eishai und Gammelrochen drehte. Als er Wochen nach seiner Rückkehr die Reisekosten einreichte, beschwerte sich die Buchhaltung über den seltsamen Gestank der Quittungen.

Ragnar Axelsson, Rax, Jahrgang 1958, ist ein isländischer Fotojournalist, der die letzten 30 Jahre damit verbracht hat, Menschen, Wetter und Landschaft in einigen der abgelegensten und isoliertesten Regionen der Arktis zu fotografieren, darunter Island, Grönland und Sibirien.
Person Von Ralf Quibeldey