„Wie ein Pfeil fliegt er hin, ohne Ziel, ohne Rast“

Der Fliegende Holländer und sein Mythos

Hui! Wie saust der Wind! Johohe! Hojohe!
Hui! Wie pfeifst’s im Tau! Johoje! Hohoje!
Hui! Wie ein Pfeil fliegt er hin, ohne Ziel,
ohne Rast, ohne Ruh’!
– aus: Richard Wagner, „Der fliegende Holländer“


Ins haltlose Nirgendwo, in den sicheren Tod scheint die Reise zu gehen. Umtost von höllischen Stürmen will die Passage des Seglers „Thetis“ von Riga nach London kein Ende nehmen. Den Matrosen schwindet in jenen Julitagen des Jahres 1839 jede Hoffnung. Finster, voller Aberglauben beäugen sie die Passagiere. Diese Unheilsgestalten! Nur drei sind an Bord. Ein junger Komponist mit seiner Frau. Und der Lieblingshund der beiden.

Auch den Ehemann übermannt schier die Verzweiflung. Diese grausame Überfahrt ist Richard Wagners letzte Chance, mit Minna den ungehaltenen Gläubigern in Riga zu entrinnen: erst über See, dann auf dem Landweg weiter nach Paris. Am Skagerrak schlagen gewaltige Brecher die Galionsfigur vom Bug, ein böses Omen: Dreimal droht das Schiff zu kentern. Minna Wagner verliert die Nerven. Sie fleht, man möge sie doch mit Segeltuch an Wagner festbinden. Wenigstens mit ihm zusammen sterben will sie.

Nach Tagen lassen die Böen nach. Die Agonie verläßt die Reisenden, Richard Wagner ist wieder obenauf. Schon während der ruhigen Fahrt auf die englische Küste zu, verstrickt er in seiner Phantasie die gerade erlebten Abenteuer in windgepeitschter See mit dem, was ihm einige Matrosen an Bord erzählt hatten: eine Schauergeschichte von einem „Fliegenden Holländer“ auf einem Gespensterschiff.

Wagner hatte darüber schon einmal gelesen. Taucht der Holländer auf, so zieht er andere unausweichlich ins Verderben. Jene Sage läßt den Komponisten auf seiner Reise nicht mehr los. Sie gewinne in ihm, so Wagner, eine „bestimmte, eigentümliche Farbe“. Und verdichtet sich unausweichlich zu einem Stoff für ein neues Werk: Am Ziel seiner Flucht, in Paris, angekommen, dauert es nicht lange, und schon beginnt Wagner mit den Vorarbeiten für eine neue dramatische Oper: „Der fliegende Holländer“. Fertiggestellt in nur sieben Wochen, durchkomponiert und selbst gedichtet.

Doch erst will niemand sie haben. „Zu undeutsch“, so das vernichtende Urteil aus München und Leipzig. Das Dresdner Hoftheater schließlich sagt „ja“. Im Jahr 1843 beginnt Wagners Seeballade dort ihren Siegeszug: ein Triumph, der den Komponisten schon im Schaffensprozeß aufleben läßt, wie er in seinen autobiographischen Aufzeichnungen vermerkt. Zum wahrhaften, zum eigenständigen Dichter sei er erst über diesem Stoff geworden, jubiliert Wagner – und pocht fortan mit Emphase auf sein endgültig erwachtes Dichtergenie.

Erst später berichtet er wahrheitsgemäß vom großen Vorbild Heinrich Heine. Dessen Romanfragment „Aus den Memoiren des Herrn von Schnabelewobski“ war Wagner schon lange vor seiner Seeflucht in die Hände gefallen. Der Held, ein Don Juan der schlimmsten Sorte, schaut sich im Amsterdamer Theater ein Stück mit dem Titel „Der fliegende Holländer“ an. Es ist bis auf Einzelheiten identisch mit der Opernversion.

Eine grobe Inhaltsangabe von Wagners „Fliegendem Holländer“: Ein rauhbeiniger holländischer Kapitän will ein wild umstürmtes Kap gegen alle Widerstände und Warnungen umschiffen, auch wenn er deswegen bis zum Jüngsten Tag segeln müsse. Er wettet darauf, und der Teufel, der den grimmigen Schwur hört, nimmt ihn beim Wort. Fortan ist dem Kapitän der sichere Hafen verwehrt. Als Verfluchter muß er bis zum Weltuntergang auf den Weltmeeren umherirren, es sei denn, die bedingungslose, aufrichtige Liebe einer Frau errettet ihn. Wohlweislich hat der Teufel jenes veranlaßt, denn an die Treue der Frauen glaubt er am allerwenigsten.

Alle sieben Jahre nun geht der Holländer von seinem Geisterschiff an Land. Auf Brautschau ist er, um Erlösung, eine Erlöserin, zu finden. Doch diese Heiraten sind vergebliche Mühe, oft ist der untote Kapitän mehr als froh, sich von seiner frisch angetrauten Gattin so schnell wie möglich wieder zu verabschieden. Zurück an Bord, nehmen er und seine gespenstische Mannschaft die Irrfahrt wieder auf. Ihre Müdigkeit und ihr Verdruß kennen keine Grenzen.

Doch dann, eines Tages nach Ende einer neuen Siebenjahresfrist, begegnet der Kapitän an Land dem schottischen Kaufmann Daland. Nach einem glücklichen Handel, bei dem Diamanten zu einem Spottpreis den Besitzer wechseln, erfährt der Holländer von Dalands schöner Tochter. Auch der Handel um das Mädchen ist schnell erledigt. Bald darauf macht der Holländer dem Mädchen seine Aufwartung. Voll Bangen hat die Hübsche auf ihn gewartet, dabei ein altes Ölgemälde in der Stube angestarrt. Es zeigt: den Fliegenden Holländer. Dieser betritt nun ihr Haus, doch alles Versteckspiel seinerseits schlägt fehl. Sie erkennt ihn, liebt ihn, den Verfluchten, vom ersten Augenblick an. Als er sie fragt: „Katharina, willst Du mir treu sein?“ antwortet sie ohne Zögern: „Treu bis in den Tod!“

Doch als er sie verlassen will, um sie nicht ins Verderben zu ziehen, ein unheimlicher Wind die blutroten Segel seines Schiffes bläht, greift sie zum letzten Mittel. Katharina stürzt sich, ihm hinterher, von einer Klippe ins Meer. Worauf der Gatte erlöst ist. Sein Schiff mitsamt der gespenstischen Mannschaft versinkt in den Abgrund.

Was Wagner an dem Stoff so faszinierte, erläutert er in einem Absatz seiner „Mitteilung an meine Freunde“ von 1851: „Die Gestalt des Fliegenden Holländers ist das mythische Gedicht des Volkes: Ein uralter Zug des menschlichen Wesens spricht sich in ihm mit herzergreifender Gewalt aus. Dieser Zug ist, in seiner allgemeinsten Bedeutung, die Sehnsucht nach Ruhe aus den Stürmen des Lebens.“ Der Komponist ahnte, daß diese Sage vom Holländer uraltes Volksgut sein müsse, obwohl er nur die jüngste Überlieferung, nämlich diejenige Heines und die Erzählung der Matrosen, kennen konnte.

Wagner vermutete richtig. Die Suche nach den Wurzeln der Holländer-Sage führt weit zurück. Spuren gibt es bereits bei den germanischen Völkern der vorchristlichen Zeit, ebenso in der griechischen Mythologie. Die Symbolik der Lebens- und Seelenreise ist der Urkern verschiedenster Transformationsmythen. In der vorchristlichen Zeit existierte im mitteleuropäischen Raum die Vorstellung eines Seelenheeres, das mit einem gespenstischen Führer durch die Luft braust. Gleichsam wurde der Anführer zum „ewigen Jäger“ stilisiert. In unzähligen Varianten taucht jener primitive Urmythos in Deutschland, Österreich, der Schweiz, in Skandinavien und England auf.

Er war eine zutiefst sexuelle Figur, ein Symbol der Fruchtbarkeit und der männ-lichen Triebkraft, wild, entfesselt, omnipräsent – und auf dem Wasser. Am Meer wurde aus dem Jäger der wilde Seemann. Für Mythenforscher ist der Zusammenhang klar: Die Völker, die an der Küste lebten, schufen auf diese Weise eine ihnen gemäße Variante. Verwandte hat diese nautische Sagengestalt und ihre endlose Reise auch anderswo, auf einer fortgeschritteneren Stufe auch in Odysseus und seiner Irrfahrt.

Durch die Jahrtausende hielt sich die Sage, veränderte sich aber ohne Unterlaß. Ihre archetypischen Charaktere paßten sich kulturellen Veränderungen an. Verschiedenste Bedeutungsmuster lagerten sich wie Sedimentschichten um ihren Kern. Das Christentum setzte sich durch, und das hatte tiefgreifende Folgen für die Sagengestalt. Der umtriebige Jäger bekam auf einmal den Ruch von Besessenheit, von dunklen Mächten, und stand immer öfter für teuflisches Wirken. Sein Handwerkszeug waren tückische Winde und Stürme. Stilisiert zur Naturdämonie, bekamen Angst und Machtlosigkeit ein Ventil in den geraunten Seemärchen der Küstenbewohner.

Erst gegen Ende des Mittelalters jedoch begann sich in der Sage ein festes Gerüst durchzusetzen. Zum beliebten mythologischen Requisit wurde ein ausgefallenes Schiff, das vom Sturm, vom Wind umhergetrieben wird, das ohne Kurs fährt, mit einem verfluchten, unsterblichen Kapitän, der Unglück bringt.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 11. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 11

No. 11Dezember / Januar 1998

Von Nina Wittrock

Nina Wittrock, Jahrgang 1973, studiert Musik und Literaturwissenschaften in Berlin und arbeitet dort als freie Journalistin

Mehr Informationen
Vita Nina Wittrock, Jahrgang 1973, studiert Musik und Literaturwissenschaften in Berlin und arbeitet dort als freie Journalistin
Person Von Nina Wittrock
Vita Nina Wittrock, Jahrgang 1973, studiert Musik und Literaturwissenschaften in Berlin und arbeitet dort als freie Journalistin
Person Von Nina Wittrock