Wie ein Lobster zu seinem Namen kam

Auch in Florida kann es Geschichten geben: ein kluger junger Mann baute sich in den zwanziger Jahren eine Zukunft

Schön ist das alles natürlich nicht. Nicht im eigentlichen Sinn. Hier, mitten in einer Viermillionen-Stadt, direkt an einem verdreckten Fluss, Autobahnbrücken im Nacken, eine berüchtigte Siedlung mit dem pittoresk klingenden Namen „Little Havana“ auf der gegenüberliegenden Uferseite, hier liegen verloren und einzigartig die „East Coast Fisheries“. Hier, das heißt in Miami – in diesem Unort, diesem urbanen amerikanischen Alptraum, dieser desolaten Stadt, ausgezeichnet nur durch gutes Wetter und ein kleines Art-déco-Viertel auf einer vorgelagerten Insel, Miami Beach.

Aber dies ist nicht Miami Beach. Sogar Downtown Miami mit seinem Glasturm-Schick und Obdachlosen-Elend scheint weit weg zu sein.

Es ist ein Zwischenort, ein Restraum. Geeignet für Menschen mit einem Hang zum Brüchigen, zum Zerrissenen. Für Menschen, die es nicht maßlos irritiert, wenn in dem Fluss dicke, offensichtlich gut genährte, aber schmutzige Seekühe friedlich vorbeischwimmen; die es nicht verängstigt, dass auf der anderen Seite drüben neben einem verlotterten Hühner-Transportunternehmen ein leeres Haus steht, das sich in der Dämmerung in eine Crack-Höhle verwandelt; die es vielleicht schaffen, sich vorzustellen, wie es 1980 war, als unter den Autobahnbrücken Hunderte von geflüchteten Kubanern monatelang campierten, oder – noch viel weiter zurück, die sich diesen Ort denken können ohne Autobahnbrücken, ohne Skyline-Kulisse im Hintergrund.

Die Luft ist schwül. Auf der Terrasse des Restaurants weht kein Wind, Gäste sitzen unter Sonnenschirmen und schlürfen karibische Drinks. Auf einem überdimensionierten Bildschirm läuft ein Basketball-Spiel. Zwei Kubaner sitzen am langen Tresen und plaudern mit dem Barkeeper. Das Spiel interessiert sie nur mäßig.

Der Innenraum strahlt südliche Helligkeit aus, die Dekoration, die antiquierten Ventilatoren an der Decke und das alte Mobiliar scheinen zu sagen: Auch in Florida gibt es Geschichte! Die hat oft einen Touch von Verwahrlosung, so auch hier. Aber – und das ist in dieser Gegend durchaus bemerkenswert – das Besteck ist tatsächlich nicht aus Plastik.

Im Erdgeschoss liegt die Küche, offen, von allen Seiten einsehbar. Von der Galerie des ersten Stocks können die Gäste in die Pfannen äugen, eine abgeblätterte Wandmalerei aus den zwanziger Jahren zeigt die offene Hebebrücke.

Als alles anfing, war der Süden Floridas gerade erst 25 Jahre richtig erschlossen, die neu gebaute Eisenbahn hatte die Verbindung in den sumpfigen, heißen Süden geschaffen.

Ein junger Mann, ein Knabe fast noch, kam in den zwanziger Jahren von Chicago nach Miami, fest entschlossen, sich hier ein Leben aufzubauen. In Chicago hatte Max Swartz für die damals weltgrößte Fischhandlung, die „Boots Fisheries“, gearbeitet. In Miami sah er, dass es um den Fischhandel nicht allzu gut bestellt war. Er kaufte ein Fahrrad, verhandelte mit den Fischern und fing an, die Hotels der aufstrebenden Touristenstadt mit Frischfisch zu beliefern. Ein paar Jahre später, 1933, bezog Max Swartz die Lokalität am Miami River. Die Fischer konnten ihre Fänge direkt anliefern, die „East Coast Fisheries“ wurden zum ersten Fischmarkt der Stadt.

Max Swartz’ genialer Verkaufstrick lag in einer Umbenennung. Der Florida Lobster hieß ursprünglich nämlich Florida Crawfish. Kein Mensch im Norden wollte etwas kaufen, das „Crawfish“ hieß und einfach nur ein Krebs war. Swartz wertete das Tier auf, es hieß fortan Florida Rock Lobster. Das Geschäft florierte, der Export gelang, während des Krieges belieferte Swartz das US-Government mit Hai-Leber-Öl, das darin enthaltene Vitamin K steigerte die Nachtsichtfähigkeit der Piloten.

Die Familien-Legende will es, dass Vater Swartz eines Tages sah, wie seine beiden Söhne sich eine provisorische Theke in den Laden bauten, um eine bessere Ablage für ihren Lunch zu haben. Da kam er auf die Idee, den Markt zum Restaurant zu machen.

Das Panorama hat sich mit den Jahrzehnten verändert, nur der Blick auf den Fluss ist gleich geblieben. Schönheit wird neu definiert: Bei Sonnenuntergang leuchten die Autobahnpfeiler orange, glitzern die Autos auf den Highways, und während die Brücke sich knarzend öffnet, um eine Segelyacht durchzulassen, wird auf der großen Terrasse in aller Ruhe Fisch serviert. Und unter der Woche Sport geguckt, erst am Wochenende geht es gediegen zu.

Wie in ganz Miami wechseln die Angestellten die Sprache problemlos. Fast alle sprechen Spanisch und Englisch. Der Manager plaudert plötzlich Schweizerdeutsch, die Angestellten lachen, das klingt doch zu komisch.

Patrick Lapaire hat nach dem Tod eines der Swartz-Söhne vor zwei Jahren das Restaurant übernommen. Die Idee mit den Sportübertragungen auf der Leinwand kommt von ihm. „Man muss den Leuten etwas bieten. Hier lieben alle Sport.“ Entertainment ist etwas, das er gelernt hat. Die Weltgewandtheit des 40-jährigen Genfers kommt nicht von ungefähr: Nach der Kochlehre im Lausanner Palais de Beaulieu und der Hotelfachschule wollte er weg. Weit weg. Am besten aufs Meer. Lapaire fuhr jahrelang zur See, als Chefkoch und Küchenmanager auf Kreuzfahrtschiffen. Auf den größten arbeiten 250 Köche; die Logistik, um fünf Mahlzeiten pro Tag für 2000 Passagiere auszurichten, ist eine hohe Kunst. Lapaire ist denn auch mehr Manager als Koch. Er hat die Küchen neuer Luxushotels in Lima, Sydney und Hongkong ausgestattet. Monatelange Stationen zwischen den Kreuzfahrten verschafften Atempausen von dem Leben an Bord. Lange wird der Mann es vermutlich auch hier nicht aushalten. Viel zu unruhig, viel zu sehr interessiert an Neuem.

Seit April 1963 sind die „East Coast Fisheries“ das führende Fischrestaurant der Stadt, vor ein paar Jahren schloss der Markt seine Türen ganz. Der Fisch wird auch heute noch vor der Inselgruppe der Florida Keys gefangen, geliefert wird er im Lastwagen.

Schiffe legen aber täglich am Kai unmittelbar vor der Terrasse an. Meist sind es nur die Yachten der Schickeria, die von den Ghettos der künstlich angelegten Luxusinseln angebraust kommen. Und – bei allem sozialen Elend – Neureiche gibt es viele in der Stadt.


Bananas Red Snapper

Zubereitung

Weißen Fischfonds zubereiten (zur Not: kaufen), mit Orangenkonzentrat abschmecken, Red-Snapper-Filets (200g pro Person) in den knapp fingerdicken Sud legen, eine rohe Banane in kleine Scheiben schneiden und auf den Fisch legen, Paprika und Butter in den Sud geben, das Ganze für 20 Minuten in den Ofen schieben. – Mit Broccoli oder Knoblauch-Zucchini servieren


East Coast Fisheries – since 1924
360 West Flagler Street,
Miami, FL 33101-5102
Tel. 001 / 305 / 372 1300,
täglich 11 und 23 Uhr, von Montag bis Donnerstag wird auf der Terasse Sport geschaut, von Freitag bis Sonntag bleibt der Fernseher aus

mare No. 22

No. 22Oktober / November 2000

Von Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.

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Vita Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.
Person Von Zora del Buono
Vita Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.
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