Wie die Europäer „weiss“ wurden

Waren die Erfahrungen europäischer Entdeckungsseefahrer eine Ursache des heutigen Rassismus? Der Historiker und Rassismusforscher Professor Christian Geulen dazu in einem Interview

mare: Professor Geulen, als Marco Polo im 13. Jahrhundert auf dem Landweg von Italien nach Peking gereist ist, hat er nie über unterschiedlich aussehende Menschen geschrieben. Woran lag das? 

Christian Geulen: Das lag maßgeb­lich an der Langsamkeit des ­Reisens zu Lande. Marco Polo ist immer nur ein wenig weitergekommen, Stück für Stück. Dabei hat er eine graduelle Veränderung der Menschen erlebt, an die er sich Tag für Tag neu gewöhnen konnte. Die Menschen sind ihm mithin gar nicht so spektakulär fremd vorgekommen.

Aber als er nach Zentralasien und später Ostasien kam, wird er doch schon wahrgenommen haben, dass die Menschen dort anders aussahen als Europäer.

Ja, aber neben der Wirkung der graduellen, langsamen Veränderung kann man feststellen: Bis zum 16. Jahrhundert wurde die Unterschiedlichkeit der Menschen grundsätzlich erstaunlich wenig thema­tisiert. Das kennen wir auch schon aus antiken Quellen. Die Griechen und Römer sind weit ins nördliche Afrika vorgedrungen und dort Menschen mit anderer Hautfarbe, anderer Physiognomie begegnet. Das spielt aber in ihren Berichten kaum eine Rolle. Die Versklavung anderer Völkerschaften durch die Römer wird oft als eine frühe Form des Rassismus gedeutet. Die Römer haben andere Völker aber nicht versklavt, weil sie anders aussahen und sie sie deswegen als minderwertig betrachteten, sondern weil sie Kriege gegen das Imperium verloren hatten. Kriegsgefangene haben die Römer automatisch in die Sklaverei geschickt, völlig egal, ob sie schwarze Haut hatten und aus Afrika kamen oder blonde Haare und aus dem Norden Europas.

Sie wollen sagen, in der Antike und im Mittelalter gab es keinen Rassismus?

So pauschal und allgemeingültig würde ich das nicht behaupten. Aber der Blick für körperliche und physiognomische Differenz hat sich maßgeblich erst in der Frühen Neuzeit herausgebildet 
als etwas, womit man dann plötzlich argumentierte: Die sind nicht wie wir, die sind anders. Und das hat ganz wesentlich mit der sich in dieser Epoche rasant ausweitenden Seefahrt zu tun.

Inwiefern?

Bis zur Weltumsegelung durch Ferdinand Magellan zu Beginn des 16. Jahrhunderts war den Menschen die Größe und Vielfältigkeit der Erde nicht bekannt. Bis dahin nahmen reisende Europäer Gebiete, in die sie kamen, in erster Linie als graduelle Ausweitung der eigenen Welt wahr – nicht als etwas komplett Neues, Anderes, Fremdes. Das änderte sich durch Magellan und andere Seefahrer der Frühen Neuzeit, die die Ozeane überquerten und auf einmal, ohne die graduelle Verschiebung der Landreise, völlig andere Weltgegenden erreichten.

Nun fährt der Mensch aber seit Jahrtausenden zur See. Bereits die alten Ägypter reisten vor über 4000 Jahren mit dem Schiff. Auch Griechen, Römer, Wikinger und Chinesen legten Tausende von Kilometern auf dem Seeweg zurück. Wieso sollte dieses Bewusstsein für das Fremde, Andersartige nicht früher aufgekommen sein?

Das ist aus unserer heutigen Perspektive tatsächlich schwer nachzuvollziehen. Aber vor den großen Entdeckungsfahrten der Frühen Neuzeit dominierte in Europa ein fundamental anderer Blick auf die Welt. Allein der Begriff Entdeckung ist untrennbar verbunden mit der Neuzeit. Frühere Seefahrer unternahmen keine Entdeckungsfahrten. Die Wikinger, die ja bis Nordamerika gekommen sind, wollten nichts Neues entdecken, sondern haben vielmehr geschaut, wo es mehr oder weniger vertraute Bedingungen gibt, unter denen sie ihr bisheriges Leben weiterführen können. Die Römer haben Er­oberungszüge unternommen, aber sie wussten dabei, wohin sie unterwegs waren und was sie dort wollten. Es ging um Ausdehnung des eigenen Macht­bereichs, der eigenen Kultur, des Alt­bekannten. 

Und erst die Seefahrer der Frühen Neuzeit wollten das Unbekannte, das Fremde entdecken?

Ja, wobei sich das eben Beschriebene natürlich nicht von heute auf morgen änderte. Noch Christoph Kolumbus, einem der ersten Entdeckungsfahrer, ging es einfach nicht in den Kopf, dass er eine den Europäern bisher unbekannte Welt­gegend erreicht haben könnte, mit Bewohnern, die nicht zur Christenheit ge­hören. Er war aufgebrochen, um den Seeweg nach Indien zu finden und so das christliche Weltbild zu vervollkommnen, es gewissermaßen zu schließen – nicht, um eine Tür zu etwas Neuem zu öffnen. Deshalb hat er bis zu seinem Lebensende wider besseres Wissen daran festgehalten, dass er keinen neuen Kontinent entdeckt habe, sondern in Indien gelandet sei.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 171. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 171

mare No. 171August / September 2025

Von Johannes Teschner und Christian Geulen

Autor Johannes Teschner, geboren 1981, lebt nach vielen Umzügen heute in Bremen – einer durch die Seefahrt geprägten und doch vergleichsweise wenig rassistischen Stadt, wie er findet.

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