Wettlauf der Wissenschaft

1889 nahm Deutschland einen folgenreichen Kampf gegen Groß­britannien um die Führung in der modernen Ozeanografie an

Es steht heute im Berliner Naturkundemuseum, eingelegt in Formaldehyd und deshalb gummiartig im Aussehen: das Exemplar des Vampir­tintenfischs, das die Mannschaft der „Valdivia“ aus 1200 Meter Tiefe an Bord geholt hat. Samtschwarz mit einem Stich ins Violette, rubinroter Augenhintergrund und von einer „abenteuerlichen Gestalt“ – so beschrieb Carl Chun, Leiter der „Valdivia“-Expedition, den Fisch. Er verlieh ihm den wissenschaftlichen Namen Vampyroteuthis infernalis, höllischer Vampirtintenfisch. Schließlich erinnern die zwischen den Armen aufgespannten Häute an den Umhang Draculas. Dieser Tintenfisch ist eine von 261 unbekannten Arten, die Chun und sein Team von der ersten deutschen Tiefsee-Expedition 1899 nach Hause brachten. 

Die Tatsache, dass es Leben in Hunderten und Tausenden Meter Tiefe gibt, war zu diesem Zeitpunkt gerade erst akzeptiert. Als Jules Verne knapp 30 Jahre zuvor seinen Roman „20.000 Meilen unter dem Meer“ schrieb, galt noch die Idee von der azoischen Zone: dass unterhalb von 550 Meter Wassertiefe kein Tier existieren könne, wegen der Kälte, der Finsternis und des enormen Drucks. Allerdings wankte die Hypothese. Der norwegische Forscher Michael Sars wies nach, dass es auch unter dieser Marke Leben gibt. Immer wieder holte er bizarre Geschöpfe aus norwegischen Fjorden und vor den Lofoten an die Oberfläche. Etwa die See­lilie Rhizocrinus lofotensis, ein lebendes Fossil, von dem die Paläontologen geglaubt hatten, es sei vor mehr als 100 Millionen Jahren ausgestorben. 

Beweise für Leben in großer Tiefe lieferten auch die neumodischen Telegrafenkabel, die zwischen den Kontinenten verlegt wurden. Der Meeresboden war kommerziell interessant geworden, sodass nun Naturforscher an Bord der Verlegeschiffe seine Tiefe und Eigenschaften feststellten. Praktischerweise hatte der Amerikaner John Mercer Brooke 1853 eine verlässliche Methode zur Tiefseelotung erfunden, bei der gleich eine kleine Probe vom Boden an Bord geholt werden konnte. Hin und wieder war auch ein Seestern dabei – und jeder dieser Seesterne erschütterte die These von der azoischen Zone mehr und mehr. 

Als das erste transatlantische Kabel riss und hochgeholt wurde, hatten sich – binnen weniger Jahre seit Inbetriebnahme – bereits 15 Tierarten darauf angesiedelt, in bis zu 3000 Meter Tiefe. Die Ozeane und deren Bewohner rückten in dieser Zeit zunehmend ins Zentrum des internationalen Forschungsinteresses. 

1872 verschaffte sich das Vereinigte Königreich einen Vorsprung vor den anderen Nationen. Die „Challenger“-Expedi­tion begründete die moderne Meeresforschung. Um die Gelder für das vierjährige Unternehmen bewilligt zu bekommen, argumentierten die Forscher bei Admiralität und Regierung, dass das Land als führende Seemacht nicht ins Hintertreffen geraten dürfe. Es drohe der Verlust der Führungsrolle in der Meeresforschung, denn Schweden, Deutschland und die USA – so stand es im Fachmagazin „Na­ture“ – planten Tiefsee-Expeditionen. 

Das verfing. Im April 1872 genehmigte das Unterhaus des britischen Parlaments die Mittel, und die Admiralität stellte die HMS „Challenger“ zur Verfügung. Schon im Dezember stach die Korvette in See, mit 240 Seeleuten, 23 Offizieren und sechs Forschern an Bord. Es war die erste systematische meeresbiologische Expedi­tion überhaupt, ein Meilenstein. 

Wissenschaft und Nationalprestige waren seinerzeit eng verflochten, die Konkurrenz zwischen den Nationen befeuerte den Fortschritt in der Forschung. Der andere Grund für den Boom der Meeresforschung im ausgehenden 19. Jahrhundert: Es gab endlich die Werkzeuge. Zwar wurden seit der Antike Karten mit See­wegen erstellt, und ab dem 18. Jahrhundert vereinfachten Sextant und Schiffs­chronometer die Navigation. Aber erst im 19. Jahrhundert standen Forschern Sammler für Bodenproben, Kolbensätze, mit denen man aus unterschiedlichen Wasserzonen gezielt Proben entnehmen konnte, Spezialnetze für wissenschaftliche Auf­gaben oder Thermometer zur Verfügung, die die höchste und niedrigste Temperatur in der Wassersäule ­aufzeichneten. 


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mare No. 157

mare No. 157April / Mai 2023

Von Dagmar Röhrlich

Dagmar Röhrlich, geboren 1956, studierte Geologie und Geophysik in Köln. Sie arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin vor allem zu Geo- und Meeres­forschungsthemen. Sie findet es erstaunlich, welche Erkenntnisse Wissenschaftler im 19. Jahrhundert gewinnen konnten – trotz nur einfacher Hilfsmittel.

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Vita Dagmar Röhrlich, geboren 1956, studierte Geologie und Geophysik in Köln. Sie arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin vor allem zu Geo- und Meeres­forschungsthemen. Sie findet es erstaunlich, welche Erkenntnisse Wissenschaftler im 19. Jahrhundert gewinnen konnten – trotz nur einfacher Hilfsmittel.
Person Von Dagmar Röhrlich
Vita Dagmar Röhrlich, geboren 1956, studierte Geologie und Geophysik in Köln. Sie arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin vor allem zu Geo- und Meeres­forschungsthemen. Sie findet es erstaunlich, welche Erkenntnisse Wissenschaftler im 19. Jahrhundert gewinnen konnten – trotz nur einfacher Hilfsmittel.
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