Wenn Kinder die Ferne verlieren

Sansibar? Findet jede Suchmaschine. Atlantik? Mit dem Flieger ist man in fünf Stunden rüber. Fernweh? Ein Auslaufmodell

Noch vor einer Generation verzauberte mein Helgoländer Landsmann, der weltbekannte Kinderbuchautor James Krüss, sein jugendliches Publikum mit Geschichten von der See. Sie spielten um den Leuchtturm auf den Hummerklippen oder auf den Glücklichen Inseln unter dem Winde. Im Meer spiegelte sich Fremde, Freiheit, Ferne, kurzum: die Fantasie. Damit setzte James Krüss eine Tradition fort, die von den Fahrten des Odysseus über Robinson Crusoe bis zur Schatzinsel von Robert Louis Stevenson reicht.

Der berühmteste Junge der Gegenwart, Harry Potter, muss nicht in die Ferne schweifen, um seine jungen Fans zu bezaubern. Er hat, obwohl er nebenan, in England, lebt, auch gar keine Idee von der See. Denn das Gute liegt so nah. Harry Potter braucht nur zum Londoner Bahnhof King's Cross zu fahren. Dort nimmt er den Elf-Uhr-Zug auf dem Gleis neundreiviertel, um anschließend in seinem Internat die größten Abenteuer zu erleben.

Eben der scheinbar alltägliche Ort macht in heutigen Zeiten die Faszination der Harry-Potter-Romane aus. Der ist plötzlich cool, während die jugendlichen Leser ansonsten längst die Raum vernichtende Allgegenwart des Internets im Kinderzimmer ausprobieren, wo die Osterinseln, Sansibar, Jamaika gerade noch einen Mausklick entfernt liegen. Oder weil sie eh in den Osterferien mit den Eltern nach Mallorca fliegen. Oder gar zum Schüleraustausch für ein paar Monate nach Brasilien, auch dort immer noch braver und behüteter als Harry Potter in Hogwarts.

Als ich klein war, schnitzten wir am Strand Schiffchen aus den dicken Stängeln des Seetangs, setzten einen Mast mit einem Segel darauf und ließen sie davonschwimmen. Segel waren fantastische Flügel. Lange habe ich auch den Regenschirm des Fliegenden Robert für ein Segel gehalten. Sobald wir nun unsere Schiffchen nicht mehr sehen konnten, waren sie „in der Ferne". Dann rumorte der schauerlich-schöne Satz des Doktor Hoffmann in mir: „Wo der Wind sie hingetragen, ja, das weiß kein Mensch zu sagen." Das ging in diesen Augenblicken so, bis die Ferne endlich doch eine traumhafte Tagesform annahm.

Gesteuert wurde mein Traumschiff dabei durch die traditionellen Geschichten, die auf der Insel kursierten, nicht durchs Fernsehen, nicht durch glänzende Reiseprospekte. Meine bevorzugten Themen waren die Helgoländer Walfänger auf Grönlandfahrt, die Auswanderung nach Amerika und der Tausch mit den Engländern zu Kaisers Zeiten: die Kolonie Sansibar, jene Insel aus Tausendundeiner Nacht, gegen die raue Heimat Helgoland. Das Erzählte ließ mir Raum für die gewagtesten Ausschmückungen. So wuchs und wucherte es in mir, und mit den Schiffchen aus Seetang trieb die Sehnsucht dahin.

Fernweh kommt aus dem Bauch, wo das Unverdaute siedelt. Aber es steigt als ein Sehnen in die Brust und weitet sie. Ein schönes Übel: Ohne die Sehnsucht wachsen wir weder an Geist noch an Gefühlen. Die große Liebe findet nur einen Platz in unserem Herzen, wenn wir uns im Sturm und Drang der Pubertät genügend nach ihr gesehnt haben. Genauso geht es mit dem Menschlein auf großer Fahrt. Wem die Brust eng ist, der Hals wie zugeschnürt, der mag sich wohl an einen anderen Ort wünschen. Fernweh hat er dennoch nicht. Auch für die weite Welt will erst Raum in uns geschaffen sein.

Das meint der friesische Wahlspruch am Helgoländer Rathaus: „Rüm Hart, kloar Kümmen". Weites Herz und klare Sicht. Nicht zufällig das Motto eines alten Seefahrervölkchens. Klare Sicht, versteht sich, auf die Kimm, den Horizont in Wind und Wetter. Nicht auf die Displays von RTL und AOL.

Fernbedienung statt Fernweh. Das gleiche flache Gefühl von der Verfügbarkeit der Orte vermittelt die Form des Reisens mit dem Flugzeug. Klassischerweise ist Erfüllung des Fernwehs mit einer Seereise verbunden. Die Dauer der Reise, die Unbill etwa der Seekrankheit, das sonderbar begrenzte wie abgehobene Leben an Bord schaffen Bedeutung, stimmen den Geist auf die Macht der Entfernung, den Glücksgrad der Erfüllung ein.


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mare No. 26

No. 26Juni / Juli 2001

Ein Essay von Reimer Eilers

Reimer Eilers, Jahrgang 1947, ist promovierter Volkswirt und lebt als Schriftsteller in Hamburg. Er stammt aus einer Lotsen- und Fischerfamilie und verbrachte seine Jugend zeitweise im Leuchtturm seines Großvaters auf Helgoland. Zuletzt schrieb er in mare No. 23 einen Essay über Leuchttürme als Mittler zwischen Land und Meer: „Es werde Licht!"

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Vita Reimer Eilers, Jahrgang 1947, ist promovierter Volkswirt und lebt als Schriftsteller in Hamburg. Er stammt aus einer Lotsen- und Fischerfamilie und verbrachte seine Jugend zeitweise im Leuchtturm seines Großvaters auf Helgoland. Zuletzt schrieb er in mare No. 23 einen Essay über Leuchttürme als Mittler zwischen Land und Meer: „Es werde Licht!"
Person Ein Essay von Reimer Eilers
Vita Reimer Eilers, Jahrgang 1947, ist promovierter Volkswirt und lebt als Schriftsteller in Hamburg. Er stammt aus einer Lotsen- und Fischerfamilie und verbrachte seine Jugend zeitweise im Leuchtturm seines Großvaters auf Helgoland. Zuletzt schrieb er in mare No. 23 einen Essay über Leuchttürme als Mittler zwischen Land und Meer: „Es werde Licht!"
Person Ein Essay von Reimer Eilers