Wenn das Herz denken könnte

Keiner hat das Lissabon inniger und eindringlicher beschrieben als Fernando Pessoa. Ein Spaziergang auf den Spuren des Schriftstellers und Nationalhelden

Wenn man in der Lissabonner Unterstadt auf der Rua Augusta, über die schwarz-weiße Geometrie ihres Pflasters kommend, durch den monumentalen Triumphbogen tritt, öffnet sich weit und hell einer der schönsten und größten Plätze Europas: der Terreiro do Paço, der frühere Palastplatz, die heutige Praça do Comércio. Auf drei Seiten von hohen, lichtdurchfluteten Arkaden umgeben, führen an der Frontseite breite Treppen hinab zum Tejo, der sich, ein Kuriosum, landeinwärts zu Meeresbreiten weitet, zur Mündung hin verengt und dem Spiel der Gezeiten unterworfen ist. Frachter ziehen langsam vorüber, auf dem schmalen Ufersteifen vergnügen sich Kinder im Sand. Zwischen schwarzen, von der Ebbe freigelegten Steinen sucht eine Frau nach Muscheln. Möwen streiten. An der Kaimauer hat ein findiger Privatmann ein Tischchen aufgebaut und bietet zum vollkommenen Genuss des Sonnenuntergangs Alkoholisches an. Ein Straßenmusikant klimpert auf der Gitarre, Touristen flanieren auf und ab, fotografieren, blicken auf den Fluss, zwischen dessen Ufern geschäftig Fährboote verkehren, die täglich Tausende Pendler aus Cacilhas, Barreiros und Seixal nach Lissabon bringen. Und über allem das leise, stetige Brausen des Verkehrs.

Hier, am Cais das Colunas, kehrte im September 1905 der damals17-jährige Fernando Pessoa an Bord des deutschen Reichspostdampfers „Herzog“ aus Südafrika zurück, wohin ihn das Familienschicksal zehn Jahre zuvor verschlagen hatte. Er verließ die Stadt und ihre unmittelbare Umgebung, mit Ausnahme einer kurzen Reise in die Provinz, bis zu seinem Tod nie wieder.

 

 

„Wie oft hatte ich nicht den Wunsch, den Fluss zu überqueren, diese zehn Minuten vom Terreiro do Paço nach Cacilhas. Und fast immer überkam mich gleichsam die Scheu vor den vielen Menschen, vor mir selbst und meinem Vorhaben. Das ein oder andere Mal bin ich hinübergefahren, stets mit einem Gefühl der Beklemmung, und stets habe ich den Fuß erst richtig an Land gesetzt, wenn ich wieder zurück war. Für den, der zu stark empfindet, ist der Tejo ein endloser Atlantik und Cacilhas ein anderer Kontinent oder ein anderes Universum.“
Pessoa lebte in zwei Welten: der Welt der realen Stadt mit ihren Straßen, Menschen, Stimmungen und Wetterlagen, und der verinnerlichten Welt seiner Imagination. Die vom Wetter abhängigen Gesichter Lissabons waren Spiegelbilder der eigenen Seele, selten erlöst wie „die vom Regen rein gewaschene Stadt nach einem Gewitter“. Er führte das Dasein eines sesshaften Nomaden, zog von einem möblierten Zimmer zum anderen, schlüpfte gelegentlich bei Verwandten unter und wechselte auf diese Weise innerhalb von 15 Jahren 16-mal seine Bleibe. Doch sein Lebensmittelpunkt war, neben dem Viertel Chiado und dem Bairro Alto, vor allem die Baixa, die Unterstadt, das pulsierende Zentrum zwischen Rossio, Praça da Figueira und Tejo, mit seiner Hafenatmosphäre, mit seinen Handelskontoren, Schiffsagenturen, Geschäften, Banken, Restaurants und Kaffeehäusern, in denen sich Intellektuelle und Künstler trafen. Die vielen Büros, in denen Pessoa sein Leben lang arbeitete, meist Import-Export-Firmen, deren englische und französische Korrespondenz er erledigte, lagen in der Rua Augusta, am Largo do Corpo Santo, am Campo das Cebolas, in der Rua da Assunção, der Rua de São Julião, der Rua dos Fanqueiros und der Rua da Prata.

„Ich ging gelassen die Straße hinunter, voller Gewissheit, waren doch das mir bekannte Büro und die mir bekannten Menschen aus diesem Büro ebenfalls Gewissheiten. Kein Wunder, dass ich mich frei fühlte, ohne zu wissen, wovon. In den Körben auf den Bürgersteigen der Rua da Prata leuchteten die feilgebotenen Bananen strahlend gelb.“

Nur eine Parallelstraße weiter befindet sich die Rua dos Douradores aus dem „Buch der Unruhe“. Hier lebte und arbeitete Bernardo Soares, Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft und Alter Ego Fernando Pessoas. Wie sein Schöpfer geht er seinem Brotberuf Tag für Tag unverdrossen nach. Sein eigentliches Interesse aber, und auch darin gleicht er ihm, gilt der Literatur. Die Rua dos Douradores mit ihren Menschen, Läden und Büros ist für ihn der Inbegriff allen Seins, die Welt im Kleinen, ein Mikrokosmos. Mit Ausnahme der Stoßzeiten ist es still geworden in der schmalen Straße.

„Wenn ich aufsehe, sind da die schmutzigen Häuserzeilen, die ungeputzten Fenster aller Büros der Unterstadt, die widersinnigen Fenster der oberen Etagen, wo noch immer Leute wohnen, und ganz oben zwischen den Giebelfenstern, zwischen Blumentöpfen und Pflanzen die ewig flatternde Wäsche.“


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mare No. 142

mare No. 142Oktober / November 2020

Von Inés Koebel und Cédric Gerbehaye

Inés Koebel, Jahrgang 1949, übersetzt Prosa und Lyrik vorwiegend aus dem Portugiesischen und ist als Mitherausgeberin der neuen Pessoa-Werkausgabe, die bei Ammann und S. Fischer erscheint, eine profunde Kennerin seines Schaffens. Nach langen Wanderjahren in Übersee lebt sie heute in Berlin.

Für den belgischen Fotografen Cédric Gerbehaye, geboren 1977, ist „Fotografieren wie Schreiben“. Seine häufig sozialkritischen Themen fand er bisher unter anderem in Palästina und im Kongo. Gerbehaye lebt in Brüssel und wird vertreten von der Agentur MAPS.

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Vita Inés Koebel, Jahrgang 1949, übersetzt Prosa und Lyrik vorwiegend aus dem Portugiesischen und ist als Mitherausgeberin der neuen Pessoa-Werkausgabe, die bei Ammann und S. Fischer erscheint, eine profunde Kennerin seines Schaffens. Nach langen Wanderjahren in Übersee lebt sie heute in Berlin.

Für den belgischen Fotografen Cédric Gerbehaye, geboren 1977, ist „Fotografieren wie Schreiben“. Seine häufig sozialkritischen Themen fand er bisher unter anderem in Palästina und im Kongo. Gerbehaye lebt in Brüssel und wird vertreten von der Agentur MAPS.
Person Von Inés Koebel und Cédric Gerbehaye
Vita Inés Koebel, Jahrgang 1949, übersetzt Prosa und Lyrik vorwiegend aus dem Portugiesischen und ist als Mitherausgeberin der neuen Pessoa-Werkausgabe, die bei Ammann und S. Fischer erscheint, eine profunde Kennerin seines Schaffens. Nach langen Wanderjahren in Übersee lebt sie heute in Berlin.

Für den belgischen Fotografen Cédric Gerbehaye, geboren 1977, ist „Fotografieren wie Schreiben“. Seine häufig sozialkritischen Themen fand er bisher unter anderem in Palästina und im Kongo. Gerbehaye lebt in Brüssel und wird vertreten von der Agentur MAPS.
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