Wenn alle Dämme brechen

Im Winter 1962 überrascht eine Sturmflut die Hamburger im Schlaf. Ein Mann behält einen kühlen Kopf und organisiert die Retter

Das Tief hat einen merkwürdigen Namen: Vincinette. Vom Nordpolarmeer zieht es Richtung südliche Nordsee. Am 15. Februar 1962, einem Donnerstag, gibt Norddeich Radio abends eine Sturmwarnung Stärke neun für die Deutsche Bucht heraus. Die Menschen an der Küste und in Hamburg beeindruckt das nicht. Sie haben in diesem Winter schon etliche Schwerwetterlagen erlebt. Allein von Anfang Januar bis Mitte Februar melden die Halligen draußen im Wattenmeer 34 Mal „Land unter“.

Am Freitagvormittag verstärkt sich Vincinette: Orkanwarnung. Zugleich meldet das Deutsche Hydrographische Institut (DHI) die Gefahr einer schweren Sturmflut für die gesamte Nordseeküste. Allerdings: Was heißt das schon für die Empfänger? Für Hamburg lautet die Warnung des DHI, die um 8.55 Uhr an Norddeutschen Rundfunk, Polizei und Hamburger Baubehörde übermittelt wird: „Zwei Meter über Mittlerem Tidehochwasser (MThw).“ Hamburgs Deiche sind ausgelegt für 4,20 Meter, also alles im grünen Bereich. Bald darauf, 11.25 Uhr, aktualisiert das DHI die Vorhersage: 2,50 über Mittlerem Hochwasser am Pegel St.-Pauli-Landungsbrücken.

Am späten Nachmittag des 16. Februar überquert die Kaltfront des Tiefs Norddeutschland mit vielen Gewittern. Orkanböen mit bis zu 160 Stundenkilometern erreichen die Küste und hindern die Ebbtide in einem gewaltigen Windstau am Abfließen. Am frühen Abend ist das Niedrigwasser an der Nordseeküste einen halben Meter höher als das Mittlere Hochwasser. Jetzt könnten die Menschen hinter den Deichen wissen, dass sich Ungewöhnliches ankündigt. Die kosmischen Kräfte verbinden sich mit den meteorologischen Gewalten; es ist Vollmond, und Sonne und Mond vereinigen ihre Anziehungskräfte auf die Gezeitenwelle.

An der Küste heißt das bündig: Die kommende Sturmflut fällt auf eine Springtide. Was sagt der Wetterdienst? Kurz: happige Sache, aber zu händeln. Das Hydrographische Institut erhöht Freitagabend 20.30 Uhr seine Voraussage auf drei Meter Fluthöhe für Hamburg.

Hinter der Kaltfront dreht der Orkan von West auf Nordwest. Bei dieser Windrichtung drückt das Nordseewasser genau in den Mündungstrichter der Elbe. Das also wird der Fokus sein, auf den sich die entfesselten Naturkräfte richten. Dort liegt der schwedische Frachter MS „Silona“ einige Seemeilen oberhalb Cuxhavens vor Anker, um den Sturm abzuwettern. Als in dieser Freitagnacht gegen 22 Uhr das Wasser über Cuxhavens Deiche läuft, bricht stromauf die Ankerkette des Frachters. Die Flutwelle der Elbe reißt das 2261-Bruttoregistertonnen-Schiff mit sich und wirft es auf Höhe des Baljer Leuchtturms 600 Meter weit ins Land.

Da liegt es nun mitten auf der Wiese, das ist wohl ziemlich verrückt, ob Sturmflut ist oder nicht. „Silona“-Kapitän Sven Nielsson (59) ist ein Unglücksrabe, wie er im Buche steht. Acht Jahre zuvor ist er in der Nordsee mit einem anderen Schiff in Seenot geraten. 1954 blieb die MS „Petra“ mit 20 Männern an Bord mehrere Tage ver­schollen, bis sie von der norwegischen Küstenwache gesichtet und in Schlepp genommen worden war.

Doch nicht die Unglücke der Seefahrt haben der Nordsee den Ruf eingebracht, eine Mordsee zu sein. Von Cuxhaven bis Stade läuft jetzt vielerorts das Wasser über die Deichkronen. Noch 50 Kilometer sind es bis Hamburg. Letzte Warnung? Ach ja, das DHI hat um 22.15 Uhr eine erwartete Fluthöhe von drei bis 3,50 Meter für die Stadt gemeldet. Das wird knapp, regt dennoch fast niemanden im Ballungsraum an der Elbe auf. Einzelne warnende Stimmen gehen unter. Ist das zu verstehen? Noch immer keine Sondersendungen, keine Lautsprecherwagen, keine Sirenen in den gefährdeten Stadtteilen.

Am Samstag früh um ein Uhr, eine saudumme Zeit im Biorhythmus, warnt das DHI plötzlich vor einer Flutwelle von vier Metern. Das ist nun kaum noch eine Voraussage, es ist schon fast ein Messwert. Unbegreiflich spät wird jetzt der Katastrophenschutz wach, zieht sich Gummistiefel an und sondiert mühsam die Lage. Gleich darauf klingelt das Telefon bei Herrn Bull. Er ist der Hausmeister in der Volksschule am Neuhöfer Damm. Das liegt im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, der wie eine Insel in die Elbe ragt. Ein Herr vom Katastrophenschutz ist am Apparat: „Sofort Platz machen für 100 Obdachlose!“

Am folgenden Tag erzählt Hausmeister Bull dem Reporter Geschke von der Hamburger „Welt“, wie es weiterging. „Ich räumte mit meiner Frau vier Klassenzimmer aus. Als ich in den Keller steigen wollte, um noch Kohlen nachzuschütten, kam mir das Wasser entgegen. Ich konnte nur schnell in unsere Wohnung im Hochparterre stürzen. Auch sie stand bereits knietief unter Wasser. Meine Kinder schliefen. Ich nahm sie dann mit nach oben. Sie waren die ersten Obdachlosen.“

Entsetzen ruft die ungeheuerliche Geschwindigkeit hervor, mit der das Wasser die betroffenen Stadtteile überschwemmt. Die Nachlässigkeit der Behörden in der Nacht korrespondiert mit dem Zustand der Hamburger Deiche, die nur auf dem Papier stolze Höhen zeigen. Tatsächlich sind sie hoffnungslos überaltert und verzwergt angesichts der hereinbrechenden Naturgewalten. Um drei Uhr morgens stehen 20 Prozent der Stadt unter Wasser. 60 Deiche sind im Stadtgebiet gebrochen. Bei Neuenfelde am Südufer spült die außer Rand und Band geratene Elbe bis zu zehn Meter tiefe Gruben in den Deichfüßen aus, als sie sich ins niedrig gelegene Alte Land ergießt.

In Wilhelmsburg, Neuenfelde und Moorburg springen die Menschen schreiend aus den Betten, als sich ihr Schlafzimmer mit eiskaltem Wasser füllt. Sie können es nicht fassen. Im Schlafanzug hasten Männer, Frauen und Kinder durch die Winternacht – falls es noch einen Fluchtweg gibt. In Neuenfelde gibt es das „Wunder auf dem Gotteshügel“. Die meisten Einwohner retten sich eben auf die alte Kirchwarft, bevor die Springflut Bauernhöfe wie Kartenhäuser hinwegspült.

Das dicht besiedelte Wilhelmsburg läuft voll wie ein gigantisches Rückhaltebecken. Viele Bewohner können nicht einmal Türen und Fenster öffnen, sitzen vom Wasser eingeschlossen im Dunkeln auf Dachböden. Tausende harren bei Temperaturen um den Gefrierpunkt durchnässt auf Dächern und Bäumen aus. Erinnerungen an den Krieg werden wach. Hubschrauber drücken am folgenden Tag mit ihren Kufen Dächer ein, um Eingeschlossenen Notausstiege zu schaffen oder wenigstens Lebensmittel in die Öffnungen abzuwerfen.


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mare No. 50

No. 50Juni / Juli 2005

Von Reimer Eilers

Reimer Eilers, 1953 in Casablanca geboren, saß in der Sturmflutnacht hoch und trocken im elterlichen Haus auf Helgolands Oberland. Selbst die tiefer gelegenen Teile der Nordseeinsel hatte Vincinettes zerstörischer Wind verschont.

Zwei Filme, die zurzeit in Arbeit sind, erinnern an die Ereignisse vom Februar 1962: NDR und Arte mit dem koproduzierten Dokudrama „Die Nacht der großen Flut“, der Privatsender RTL mit seinem Zweiteiler „Die Sturmflut“; beide Produktionen wurden Anfang 2006 ausgestrahlt.

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Vita Reimer Eilers, 1953 in Casablanca geboren, saß in der Sturmflutnacht hoch und trocken im elterlichen Haus auf Helgolands Oberland. Selbst die tiefer gelegenen Teile der Nordseeinsel hatte Vincinettes zerstörischer Wind verschont.

Zwei Filme, die zurzeit in Arbeit sind, erinnern an die Ereignisse vom Februar 1962: NDR und Arte mit dem koproduzierten Dokudrama „Die Nacht der großen Flut“, der Privatsender RTL mit seinem Zweiteiler „Die Sturmflut“; beide Produktionen wurden Anfang 2006 ausgestrahlt.
Person Von Reimer Eilers
Vita Reimer Eilers, 1953 in Casablanca geboren, saß in der Sturmflutnacht hoch und trocken im elterlichen Haus auf Helgolands Oberland. Selbst die tiefer gelegenen Teile der Nordseeinsel hatte Vincinettes zerstörischer Wind verschont.

Zwei Filme, die zurzeit in Arbeit sind, erinnern an die Ereignisse vom Februar 1962: NDR und Arte mit dem koproduzierten Dokudrama „Die Nacht der großen Flut“, der Privatsender RTL mit seinem Zweiteiler „Die Sturmflut“; beide Produktionen wurden Anfang 2006 ausgestrahlt.
Person Von Reimer Eilers