Welliges Ego

Die Zukunftsängste des Surfers Jamie Brisick

Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung des typischen Hot-Shot-Surfers, so wie du ihn dir vorstellst. Du fängst schon als Kind an. Du bist gut, ein Naturtalent, und du weißt das. Du wirst immer besser, durchläufst den Amateurstatus, erreichst das Spitzenniveau und wirst schließlich Profi-Surfer. Du reist um die Welt mit dem Geld deines Sponsors, konkurrierst wie ein Irrer mit anderen und kannst dich – durch all das Training, durch all die Wettkämpfe – unheimlich genau einschätzen. Unterwegs kommst du durch fremde Länder, lernst über das Leben und schläfst mit einer Menge exotischer Frauen.

Du, mein Lieber, hast es verdammt drauf. Das läuft fünf bis zehn Jahre so, hängt davon ab, wie gut du bist. Und dann verlieren die Wettkämpfe an Bedeutung. Neue Wege tun sich auf. Du kommst in die post-professionelle Phase: Surfen wird mehr eine Sache der Seele; all die Werbesticker verschwinden vom Brett und das Wellenreiten erreicht eine höhere, weniger kompromissbereite, persönlichere Ebene. Du gelangst zur Meisterschaft… und dann, irgendwo Mitte oder Ende dreißig, entwickelst du dich auf dem Surfboard nicht mehr weiter. Es geht bergab.

Genau hier findet die große Prüfung statt. An diesem Punkt entscheidet sich, ob du weiterwächst oder dich an den Ruhm vergangener Jahre klammerst und deinen eigenen toten Pegasus peitschst. Dieser Teil der Evolution eines Surfers, der seine Grenzen so weit wie möglich hinausgeschoben hat, wird nie richtig betrachtet.

In dieser Phase des Spiels kannst du nicht mehr dein gesamtes Ego und deine Identität daraus beziehen, wie gut du Wellen reitest. Es ist vergebens. Du hast deine Ladung fast verschossen – und zuviel Konkurrenzdenken schleudert dich geradewegs in die Midlife-Crisis. Das ist die Zeit, wo du deinen ganzen Wasserzirkus nehmen und aufs trockene Land bringen solltest. Das ist die Phase des Kriegers, die Zeit, in der deine Ausstrahlung von innen heraus kommen sollte und du kein Surfbrett mehr nötig hast, um den Leuten zu zeigen, wer du bist.

Die Wellen des Ozeans zum einzigen Schauplatz deines Leben zu machen, ist so, als würdest du im Haus deiner Eltern wohnen und niemals ausziehen. Es ist eine Art Xenophobie, Angst vor dem Fremden. Du bist Acht-Meter-Wellen am Sunset Beach gesurft, hast dir tiefe Schnitte bei Cave Rock geholt, bist auf Boogiewellen von Malibu getwistet… aber kannst du deinen Weg auch die Asphaltstraße runtertanzen? Auf Alleen aus Kopfsteinpflaster? Im Chaos der Gefühle? Durch finanzielle Engpässe? Kannst du auf anderen Schauplätzen bestehen, ohne dass dir dein Surfbrett Sicherheit und Bewunderung garantiert? Nur darum geht es. Das Surfen bleibt dir immer erhalten, aber die Nabelschnur zu deinem alten Ich wird letztlich durchtrennt. Und dann hebst du ab in eine andere Umlaufbahn. Hoffentlich bleibt die Magie – die gleiche Magie, die deine Surf-Karriere begleitet hat – und erleuchtet die neue Welt um dich herum. Dann wird alles gut…

Das wirkliche Finale findet nicht statt am Huntington Beach Pier eines Sonntags im Achselhemd. Es geschieht im Alter um die siebzig. Gibt’s da Bitterkeit im Gesicht, Zorn und Hass unter der Oberfläche lederner Haut? Oder ist da nichts als Lebenslust, Humor, Leidenschaft, Charisma…

Aus höherer Perspektive betrachtet, ist Wellenreiten so etwas wie forschend die Welt zu bereisen. Das Surfbrett ist kein Spielzeug, um in der Brandung herumzutollen. Es ist viel mehr als das. Es ist ein Fliegender Teppich. Dem Surfbrett wachsen zu guter Letzt Beine und Flügel. Es kann dich überall hinbringen, wohin du möchtest. Auch jenseits der Wellen…

mare No. 3

No. 3August / September 1997

Von Jamie Brisick

Jamie Brisick lebt in Venice, Kalifornien. Er war sechs Jahre lang Profi-Surfer und arbeitet jetzt als Kolumnist für das US-Magazin Surfing.

Aus dem Amerikanischen von Claudia Karstedt

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Vita Jamie Brisick lebt in Venice, Kalifornien. Er war sechs Jahre lang Profi-Surfer und arbeitet jetzt als Kolumnist für das US-Magazin Surfing.

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Person Von Jamie Brisick
Vita Jamie Brisick lebt in Venice, Kalifornien. Er war sechs Jahre lang Profi-Surfer und arbeitet jetzt als Kolumnist für das US-Magazin Surfing.

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