Wechselbäder

Englische Architekten haben die Ebbe überlistet. In Gezeitenschwimmbecken halten sie die Flut gefangen

Wie Würmer krochen die Kriegsveteranen aus dem Schlamm der flandrischen Schützengräben hervor. Sie hatten Verlangen nach frischer Luft und Bewegung – eine geradezu natürliche Reaktion auf die Schrecken des Ersten Weltkriegs. Luft und Licht waren aber nicht nur ihnen, sondern der ganzen englischen Bevölkerung ein Bedürfnis, denn allerorts grassierten die Armutsseuchen Rachitis und Tuberkulose. Dass die Kraft der Sonne heilende Wirkung hatte, war eine neue Erkenntnis. Bücher wie „Rolliers Lichttherapie“ (1923) und Hans Surers „Der Mensch und das Sonnenlicht“ (1925) entfachten einen wahren Sonnenlichtkult.

Jahrelang hatten die Engländer Wert darauf gelegt, sich ihre vornehme Blässe zu bewahren. Nun schwenkten sie um und nahmen sich ein Beispiel am europäischen Festland. Besonders angetan waren sie von den Berliner Volksparks, die der Oberbürgermeister Gustav Böß in den frühen zwanziger Jahren hatte anlegen lassen. Reisende staunten über glitzernde Schwimmbäder zwischen Bäumen und Rasenflächen inmitten der Stadt, über die deutsche Begeisterung für Sonne, athletische Körper und Freikörperkultur. Es war eine Zeit, in der dem (in Berlin wohnenden) Dichter Stephen Spender zufolge „Tausende von Leuten in die Freibäder strömten oder sich halb beziehungsweise ganz nackt an die Ufer von Flüssen und Seen legten. Zwischen den blasseren Zeitgenossen unter ihnen stolzierten die braun gebrannten Jünglinge umher wie Könige zwischen Höflingen. Die Sonne heilte ihre Körper von den Entbehrungen und Wunden der Kriegsjahre. Sie erweckte in den Menschen das Bewusstsein für die pulsierende, bebende Lebendigkeit des Blutes und der Muskeln. Sonnenlicht umhüllte ihre erschöpften Lebensgeister wie der Pelz ein Tier“.

Öffentliche Badeanstalten gab es in England zwar auch, allesamt Hallenbäder. Sie zeichneten sich durch eine strenge Architektur aus. Eisengitter, lange Steinkorridore und Reihen von abgeteilten Zellen erinnerten an Gefängnisse. Ein Zeitgenosse beklagte sich, von allen Orten dieser Welt sei das Schwimmbad der ideale Schauplatz für einen Selbstmord. „Wer hier in einer melancholischen Stimmung schwimmen geht, läuft ernsthaft Gefahr, sich zu ertränken.“ An die Schwimmhallen schlossen sich in der Regel Wasch- und Badehäuser an. Deren Zweck: Bedürftige und Mittellose sollten dort die Möglichkeit erhalten, Körper, Geist und Seele zu reinigen.

Doch dann begann eine neue Ära. Die neu gebauten englischen Lidos waren Freiluftanlagen ohne jede erzieherisch-moralische Absicht. Ihr Name leitet sich vom venezianischen Lido ab, womit sich die Vorstellung von Lebensfreude und Eleganz verband. Die Pools sollten Vergnügen und Freiheit kultivieren, Mittelpunkte bilden für eine durch den Krieg zersplitterte Gesellschaft.

Um die Schwimmbecken herum gruppierten sich Cafés, Kapellen, Tanzpavillons und Büchereien. Die Männer hatten ihre langen Badehosen abgelegt, die Frauen zeigten sich nicht mehr in blusenartigen und strumpfbewehrten Schwimmanzügen, sondern in knappen, schmeichelhaften Bademoden. Vor dem Krieg waren Männer und Frauen dazu angehalten, sich nicht auf derselben Seite eines Hallenbads aufzuhalten. Mitunter wurden sie sogar genötigt, zu unterschiedlichen Zeiten schwimmen zu gehen. Nun aber saßen sie gemeinsam auf den weitläufigen Terrassen oder lagen auf dem Rasen zwischen Blumenbeeten, um in einer Weise miteinander zu plaudern oder zu flirten, die für frühere Generationen undenkbar gewesen wäre.

Die Bauweise der Freiluftbäder hing stark vom jeweiligen Architekten ab. Die Lidos der Zwanziger beriefen sich auf die klassische Tradition. Da gab es Zypressen, Pergolen, Kolonnaden von Umkleidekabinen und Säulenpavillons als Cafés. Steinbänke, im Stil eines griechischen Amphitheaters gehalten, säumten die Becken.

Doch gegen Ende des Jahrzehnts veränderten neue Einflüsse vom europäischen Festland das reichlich altmodische Konzept. Wer heute an die avantgardistische Architektur in England denkt, verbindet sie unweigerlich mit den Lidos. Die Stilelemente der Moderne – weiße Oberflächen, Panoramafenster, Flachdächer – waren bezeichnend für den Kult ums Sonnenlicht. Beton war das Material der Zeit, seine Formbarkeit beflügelte die Fantasien der Architekten. Für Aufsehen sorgten das serpentinenförmige Schwimmbad von Marc Picard in Lausanne und besonders die Pariser Piscine Molitor von Lucien Pollet. Der Schwimmolympiasieger und Hollywood-Star Johnny Weissmueller hatte das Exempel der Art-déco-Architektur im Jahr 1929 eröffnet.

Die englischen Bäder wurden nun zunehmend stromlinienförmig; mit ihren geschwungenen Kurven und fantasievollen, unregelmäßigen Formen passten sie sich den spektakulären Naturkulissen an. Lag das Wasser ruhig da, spiegelten sich darin Wolkenberge oder umliegende Klippen. Mitten im Pool standen Sprungtürme und eine Folge von Kelchen, in denen das Wasser gereinigt und mit Luft angereichert wurde, bevor es sich ins Becken ergoss. Die Architekten der Moderne hatten ein Faible für die Ästhetik der Ozeandampfer. Beim Bau der Lidos übernahmen sie bevorzugt die Formensprache der eleganten Atlantik-Liner. Für die Badegäste entstand so die Illusion, sich an Deck eines Schiffes zu befinden, weit draußen auf dem Meer, weit weg von Alltag und Sorgen.


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mare No. 35

No. 35Dezember 2002 / Januar 2003

Von Charles Sprawson und Jason Orton

Charles Sprawson, Jahrgang 1941, lebt in London, lehrt klassische Literatur, vor allem aber schwimmt er leidenschaftlich gern. Er lernte es nicht im Meer, sondern in den gefluteten unterirdischen Gewölben eines indischen Prinzenpalasts. Kürzlich ist im marebuchverlag seine Kulturgeschichte des Schwimmens erschienen, die John von Düffel ebenso übersetzte wie den vorliegenden Text.

Jason Orton, Jahrgang 1967, lebt als freier Fotograf in London. Die hier veröffentlichten Bilder sind Teil eines fotografischen Projekts, in dem sich Orton des Verhältnisses Mensch–Küste annimmt.

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Vita Charles Sprawson, Jahrgang 1941, lebt in London, lehrt klassische Literatur, vor allem aber schwimmt er leidenschaftlich gern. Er lernte es nicht im Meer, sondern in den gefluteten unterirdischen Gewölben eines indischen Prinzenpalasts. Kürzlich ist im marebuchverlag seine Kulturgeschichte des Schwimmens erschienen, die John von Düffel ebenso übersetzte wie den vorliegenden Text.

Jason Orton, Jahrgang 1967, lebt als freier Fotograf in London. Die hier veröffentlichten Bilder sind Teil eines fotografischen Projekts, in dem sich Orton des Verhältnisses Mensch–Küste annimmt.
Person Von Charles Sprawson und Jason Orton
Vita Charles Sprawson, Jahrgang 1941, lebt in London, lehrt klassische Literatur, vor allem aber schwimmt er leidenschaftlich gern. Er lernte es nicht im Meer, sondern in den gefluteten unterirdischen Gewölben eines indischen Prinzenpalasts. Kürzlich ist im marebuchverlag seine Kulturgeschichte des Schwimmens erschienen, die John von Düffel ebenso übersetzte wie den vorliegenden Text.

Jason Orton, Jahrgang 1967, lebt als freier Fotograf in London. Die hier veröffentlichten Bilder sind Teil eines fotografischen Projekts, in dem sich Orton des Verhältnisses Mensch–Küste annimmt.
Person Von Charles Sprawson und Jason Orton