Wer einmal die Dünenstraße vor Corralejo auf Fuerteventura entlangfährt und an einer der kleinen Buchten für einen Badeaufenthalt im türkisfarbenen Atlantik stoppt, der kommt gar nicht umhin, sich mit dem Phänomen des Wellensurfens auseinanderzusetzen, selbst dann, wenn er noch nie auf einem Brett gestanden hat. Es gibt kaum eine Sportart, die sich gegensätzlicher verhält zu unserer auf Effizienz, Selbstoptimierung und Verfügbarkeit getrimmten Gesellschaft. Wer surft, verbringt nahezu 90 Prozent seiner Zeit auf dem Bauch liegend, mit den Armen im Salzwasser paddelnd und wartend. Wartend auf den einen Moment, in dem es gelingt, von der perfekten Welle mitgenommen zu werden, sich aufzurichten und für wenige Momente den Ozean zu bereiten. Einen Ozean, der immer gewinnt, was den Spaß aber nicht mindert.
Denn um nichts anderes geht es beim Wellenreiten, um die Sehnsucht nach Erfüllung und Vergnügen, einem Vergnügen, das nach Möglichkeit endlos währt und niemals unterbrochen wird von den lästigen Dingen des Erwachsenenlebens wie Steuererklärungen, Rechnungen oder schlicht dem Ende des Urlaubs.
Was zum Beispiel in dem Hollywoodfilm „Point Break“ (USA, 1991) so wunderbar in Szene gesetzt worden ist, erinnert an eine Parallelwelt, in der erwachsene Menschen nichts anderes tun, als den Wellen und der Wärme hinterherzureisen und in einem endlosen Sommer ihr Leben zu verbringen, während andere arbeiten und nach gesellschaftlicher Anerkennung streben, Häuser bauen und Familien gründen und langsam, aber sicher älter werden.
Es entspricht dem popkulturellen Bild des Surfers, dass er während der Ausübung seiner Passion praktisch nichts außer seinem Neoprenanzug am Körper trägt, aus der Perspektive von Außenstehenden häufig halb nackt am Strand herumlungert, abends an einem Lagerfeuer sitzt und sich nicht lange mit festen Bindungen und romantischen Zweierbeziehungen aufhält. In einem klapprigen bunten Bus permanent unterwegs, fernab aller zivilisatorischen Unbilden, lebt er nur für den Augenblick, ohne Störungen, Untiefen und schwierige Entscheidungen.
Es ist ein Leben im Bademantel des kleinen Kinds, der unter anderem im einzigartigen Kleidungsstück des Surfponchos eine würdige Entsprechung gefunden hat. Menschen in solchen Ponchos sieht man überall an den Surfspots dieser Welt. Nach dem Vergnügen stehen sie eingemummelt und wohlig warm in diesem den Körper umschließenden Frotteehandtuch mit der ins Gesicht hängenden Kapuze, stapfen durch die heranrollende, die Füße umspielende Brandung und gucken glücklich auf den Ozean, den sie gerade eben noch bezwingen wollten.
In einer Welt, in der eben jener Surfponcho das einzig legitime Kleidungsstück für ein endloses Leben im Rhythmus der Gezeiten ist, verschwimmen die Altersgrenzen der verschiedenen Generationen zugunsten einer gemeinsamen Sehnsucht nach dem Glücksgefühl ohne Verpflichtungen und dem Vergessen der Anforderungen des Lebens, wie es sie außerhalb dieses Orts an uns alle stellt.
In der Popkultur, in Büchern und Filmen und nicht zuletzt in der Musik der legendären Beach Boys bis zum hawaiianischen Songwriter Jack Johnson ist Surfen zum Inbegriff geworden für ein Leben der ewigen Ungebundenheit, einer Lebensform, die zudem frappierend an einen Traum erinnert, der schon vor mehr als 100 Jahren von dem britischen Schriftsteller J. M. Barrie in ein Theaterstück verwandelt worden ist, „Peter Pan“, das die sehr erwachsene Vision von der ewigen Kindheit in eine faszinierende Topografie verwandelt hat. Eine Topografie, die mit dem Phänomen der Surfkultur nicht nur den Ort gemein hat, an dem der Traum vom Nicht-erwachsen-Werden möglich werden kann. Denn natürlich ist das Neverland (deutsch: „Nimmerland“) des Titelhelden Peter Pan nichts anderes als eine Insel mit endlosen Stränden, an denen, wer will, Abenteuer mit sich selbst erleben kann.
Barries Kinderstück mit dem Untertitel „The Boy Who Wouldn’t Grow Up“ („Der Junge, der nicht erwachsen werden wollte“) aus dem Jahr 1904 begeistert Menschen auf der ganzen Welt bis heute und zählt zu den meistgespielten Familiengeschichten, nicht nur auf den englischen Bühnen. Es spielt auf faszinierende Weise vor allem mit den Sehnsüchten seiner erwachsenen Zuschauerinnen und Zuschauer, vielleicht, weil es auch von einer Schattenseite der menschlichen Existenz erzählt, die wiederum nur diese Volljährigen verstehen können. Denn Peter Pans Neverland wäre nicht Neverland ohne den Piratenkapitän Hook, der in Angst lebt vor einem Krokodil, in dessen Bauch eine Uhr unheilvoll tickt.
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Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, hat, nachdem er viele Jahre gesegelt ist, entdeckt, dass auf einem Surfbrett die Verbindung zum Meer noch elementarer ist. Der promovierte Medienwissenschaftler arbeitet als Schauspieldirektor, Dramaturg und Autor. Für mare hat er unter anderem über die Gemeinsamkeit von Theaterhäusern und Ozeanlinern (No. 88) und die zeitlose Sehnsucht nach dem Paradies (No. 137) geschrieben.
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Vita | Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, hat, nachdem er viele Jahre gesegelt ist, entdeckt, dass auf einem Surfbrett die Verbindung zum Meer noch elementarer ist. Der promovierte Medienwissenschaftler arbeitet als Schauspieldirektor, Dramaturg und Autor. Für mare hat er unter anderem über die Gemeinsamkeit von Theaterhäusern und Ozeanlinern (No. 88) und die zeitlose Sehnsucht nach dem Paradies (No. 137) geschrieben. |
Person | Von Alexander Kohlmann |
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Vita | Alexander Kohlmann, Jahrgang 1978, hat, nachdem er viele Jahre gesegelt ist, entdeckt, dass auf einem Surfbrett die Verbindung zum Meer noch elementarer ist. Der promovierte Medienwissenschaftler arbeitet als Schauspieldirektor, Dramaturg und Autor. Für mare hat er unter anderem über die Gemeinsamkeit von Theaterhäusern und Ozeanlinern (No. 88) und die zeitlose Sehnsucht nach dem Paradies (No. 137) geschrieben. |
Person | Von Alexander Kohlmann |