Wanderer zwischen den Zeiten

Epochen kommen und gehen, der Nautilus aber bleibt. Gratulation zum fünfhundertmillionsten Geburtstag

Was hätte er zu erzählen, wenn er nur reden könnte: Seit knapp einer halben Milliarde Jahre schwimmt der Nautilus – respektive seine Ahnen – durch die Meere fast aller Erdzeitalter. Er ist durch die Äonen geströmt, und die Äonen strömten durch ihn – da dürfte einiges hängen geblieben sein.

Doch immerdar hüllt er sich in tiefes Schweigen, genau genommen ist es um die 700 Meter tief. Dort, in den ewig dunklen Abgründen des Westpazifiks und Teilen des Indiks, lebt das wunderbare Relikt jüngster Erdentage. Ein lebendes Fossil, das auf andere tierische Altertümer, den Pfeilschwanzkrebs etwa oder erst recht das Krokodil, wie ein Greis aufs Baby blicken könnte. Natürlich würde er zuerst von der guten alten Zeit berichten.

Die begann, wie gesagt, vor gut 500 Millionen Jahren, im Ordovizium. Die ersten Kontinente, unaufhörlich von Vulkanen bespien, waren just entstanden; die wenigen Fische und Muscheln verloren sich in den Meeren. Die ersten Korallen streckten sich zum Licht, längst ausgestorbene Spinnen, Krebse, Ringelwürmer, vor allem aber Trilobiten markierten das Leben am ufernahen Meeresgrund. Die Hochsee dagegen war lebensleer.

Der Nautilus war der Schrecken der Ozeane. Bis zu neun Meter große versteinerte Schalenstücke lassen auf seine urgewaltige Größe schließen – vielleicht war er das erste „Meeresmonster“ überhaupt. Feinde hatte der Nautilus kaum, in aller Ruhe konzentrierte er sich auf die Ausbildung seines Tauchapparats: Die mit Gas oder Wasser gefüllten Kammern seines Gehäuses ermöglichten ihm, vom Meeresgrund abzuheben. Die vordere Kammer war die gute Stube: Darin zog sich der Kopffüßer samt seiner rund 90 Fangarme zurück, wenn er von Trilobiten gesättigt war. So hält er es noch heute: Nautilus, der letzte Überlebende aus der Ordnung der Nautilida und der jüngste Spross der Familie der Nautilidae (Nautiliden). Viel kleiner von Wuchs ist er inzwischen, und auch die Beute ist eine andere.

Beneidenswerter Nautilus: Den „heiligen Traum“ der Paläontologen, die Reise durch die Epochen, seine Vorfahren haben sie erlebt. Sie begrüßten die ersten Seeigel im Silur (vor 440 Millionen Jahren), mit ihren schwachen Augen, einer Lochkamera ähnlich, sahen sie die ersten Kieferfische und Amphibien des Devons (vor 400 Millionen Jahren), schemenhaft dürften sie im Karbon (vor 350 Millionen Jahren) die ersten geflügelten Insekten überm Wasser entdeckt haben.

Wenn er nur spräche. Nebenbei könnte der Zeitenzeuge einen ewigen Streit der Wissenschaftler schlichten: War es ein Meteorit, der im Perm (vor 225 Millionen Jahren) fast 90 Prozent des Erdenlebens auslöschte? Oder handelte es sich um eine natürliche Apokalypse, eine Jahrmillionen dauernde üble Laune der Evolution?

Der Nautilus könnte Kunde geben von den anderen Katastrophen der Erdgeschichte: von einem weiteren Massensterben im Trias (vor 215 Millionen Jahren) und erst recht von jenem gewaltigen Einschlag vor 66 Millionen Jahren, der die Dinosaurier hinweggerafft haben dürfte und einen riesigen Teil des Meergetiers dazu. Selbstredend könnte er auch die Schwimmübungen des Homo habilis, des ersten Menschen, beschreiben, zweieinhalb Millionen Jahre ist das nun auch schon wieder her.

Doch nicht nur von anderen Erdenzeiten – auch von einer anderen Zeit auf Erden wäre zu berichten. Von jenen Tagen des Devons etwa, die sehr viel kürzer waren als die heutigen; vom Mond, der nach neun Tagen bereits in voller Größe leuchtete (siehe auch Seite 81). Anhand der Wachstumslinien auf Nautilusschalen erkannte man, dass der Trabant seinerzeit um die Hälfte näher am Planeten gestanden haben muss.

Aber der Nautilus kann ja nicht reden, sein Papageienschnabel taugt nicht einmal zum Nachplappern. Aufschreiben entfällt ebenfalls, das können selbst seine höher entwickelten Nachfahren nicht, die Kalmare oder Kraken. Auch nicht die Tintenfische, obwohl die ja inzwischen das Zeug dazu hätten. Was bleibt, sind die Rätsel um den wahrhaft steinalten, gleichwohl putzmunteren Methusalem der Meere.

Etwa jenes seiner Überlebenskraft. Selbst die Ammoniten – den älteren Nautiliden dazumal am engsten verwandt, dafür umso kräftiger, schneller wachsend und sich rascher vermehrend – sind längst nicht mehr als zu Stein gepresste Archivalien der Erdgeschichte. Die Theorien sind vielfältig: Von der schützenden Tiefe ist die Rede, von der Fähigkeit, auch in flachen Regionen zu jagen, vom günstigen Fortpflanzungszyklus. Nicht die schlechteste Theorie meint, der Nautilus habe einfach unverschämtes Glück gehabt.

Möglicherweise aber hatten auch die antiken Griechen Recht, die das noch im Mittelalter gegen Gold aufgewogene Gehäuse des Nautilus auf die Altäre legten, zur Zierde der Götter.

„Nur das wahrhaft Schöne ist ewig“, wussten ihre Philosophen.

mare No. 28

No. 28Oktober / November 2001

Von Maik Brandenburg

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

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