Wanderer auf dem Sternenpfad

Bis in die 1960er glaubten Forscher nicht, dass die Polynesier im­stan­de waren, mithilfe von Sternen über weite Strecken auf See zu navigieren. Ein Londoner Hausarzt lehrte sie eines Besseren

Es ist eine neblige Nacht in London, als sich David Lewis ruhelos im Bett wälzt. „Ich konnte keinen Schlaf finden wegen des Getutes der Schiffssirenen, das über zwei Meilen rußiger Dächer klar durch die frostige Luft tönte. Ich versuchte, die Botschaft nicht zu hören – dass das Meer dort auf mich wartete, immer noch ungezähmt und frei, wie es immer gewesen ist, immer noch herrlich und schrecklich in seinem unpersönlichen Zorn.“

Die britische Hauptstadt in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren – noch immer herrscht der eingeschränkte Lebensstandard der Nachkriegszeit. Grau ist der vorherrschende Farbton des Lebens. Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, England hätte den Krieg verloren. David Lewis führt eine Hausarztpraxis in der Stadt und arbeitet meist bis spät in die Nacht. Er ist Mitte dreißig, verheiratet und hat zwei Kinder. Eine zwar bescheidene, aber gesicherte Existenz. So scheint es jedenfalls. Innerlich aber ist er rastlos und unerfüllt, denn auch in ihm ist der Wandertrieb lebendig, der seine irisch-walisische Familie über die halbe Welt verstreut hat.

So verbrachte David Lewis einen Teil seiner Kindheit auf Rarotonga, einer Insel in der Südsee, wo er die lokale Dorfschule der Eingeborenen besuchte, statt auf die Schule der weißen kolonialen Oberschicht zu gehen. Dort sei er zwar von einem Lehrer unterrichtet worden, der ihm ernsthaft versicherte, 42 und 24 seien das Gleiche. Trotzdem habe er „viele Dinge gelernt, die unbezahlbar waren“, wie etwa Tauchen und Fischen. Vor allem aber lauschte der junge David gebannt den Geschichten über die alten Maori-Seefahrer und deren legendäre Reisen in „Kanus, die die Wolken des Himmels herausforderten“.

Später musste er ein konventionelles Internat in Neuseeland besuchen. Gelangweilt von der beschränkten Umgebung, baute David sein eigenes Kanu, mit dem er allein, trotz des Einspruchs des Schulrektors, aber mit Erlaubnis der Eltern, die 430 Meilen lange Heimreise über Berge, Flüsse und Seen bewältigte. Im hohen Alter schreibt er in seiner Autobiografie „Shapes On The Wind“ über dieses Jugendabenteuer: „Wenn ich zurückschaue, wird mir klar, dass dieses Unternehmen für vieles in meinem zukünftigen Leben prägend war.“ Aber zunächst folgte er dem Beispiel seiner Mutter und studierte Medizin. Nach seinem Einsatz beim Royal Army Medical Corps während des Krieges und einer kurzen Station auf Jamaika ließ er sich 1948 als Hausarzt in London nieder, für immer, wie es schien.

Hier also liegt er nachts wach im Bett, unzufrieden vom Leben, dabei könnte alles bestens sein. Seinen sozialistischen Neigungen folgend, engagiert er sich für das gerade in Großbritannien gegründete staatliche Gesundheitssystem National Health Service, betreibt ein wenig Forschung und baut seine Praxis auf. Aber er liebt die Frauen zu sehr, nicht nur seine eigene, und schon bald kriselt es in seiner Ehe. Dieses Gefühl der Rastlosigkeit treibt ihn wieder um, und als seine Mutter stirbt und die Ehe endgültig in die Brüche geht, stürzt er sich in ein waghalsiges Unternehmen.

1957 schreibt die englische Zeitung „The Observer“ die erste Transatlantikregatta für Einhandsegler von Plymouth nach New York aus, und trotz seiner begrenzten Segelerfahrung gelingt es Lewis, sich für die Teilnahme zu qualifizieren. Schon kurz nach dem Start im Juni 1960 bricht der Mast, trotzdem erreicht er mit seinem Boot als dritter von fünf Teilnehmern nach 53 Tagen New York.

Ihm ist klar, dass er nicht in sein früheres bürgerliches Leben zurückkehren wird. Schon während der Vorbereitungen zur Regatta hatte er seine zukünftige zweite Frau kennengelernt. Zwei weitere Kinder werden geboren, während er alle freie Zeit und all seine Ersparnisse in den Bau eines Katamarans investiert, den er „Rehu Moana“ nennt, polynesisch für „Meeresschaum“. Als er endgültig Haus und Praxis verkauft, ist er 47 Jahre alt und hat 16 Jahre als Arzt gearbeitet. 1964 bricht er mit seiner Familie zu einer historischen Weltumsegelung auf: die erste mit einem Katamaran, vielleicht auch die erste mit einem sechs Monate alten Baby an Bord.

In den Monaten vor dieser Reise hatte er begonnen, sich für Navigation zu interessieren, insbesondere dafür, wie es den seefahrenden Polynesiern gelungen sein könnte, ein so weites Gebiet wie die verstreute Inselwelt des Pazifiks zu besiedeln. Aufgrund vielfältiger ethnologischer, anthropologischer und linguistischer Daten, die deutlich auf eine Besiedlung von Südostasien aus hinweisen, gilt in den 1960er Jahren Thor Heyerdahls These, die Besiedlung des Pazifiks sei von Südamerika aus erfolgt, als widerlegt. Jedoch werden auch die polynesischen Geschichten über Seefahrer, die sich bei ihren langen Reisen nur an den Sternen und der Sonne orientierten, von Historikern als naive Märchen einer vorwissenschaftlichen Kulturstufe angesehen.


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mare No. 90

No. 90Februar / März 2012

Von Stephan Quentin

Die Parallelen sind unverkennbar: Autor Stephan Quentin, geboren 1964 in Kiel, ist passionierter Segler und arbeitete bis vor Kurzem als Hausarzt in England – so wie seinerzeit David Lewis.

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Vita Die Parallelen sind unverkennbar: Autor Stephan Quentin, geboren 1964 in Kiel, ist passionierter Segler und arbeitete bis vor Kurzem als Hausarzt in England – so wie seinerzeit David Lewis.
Person Von Stephan Quentin
Vita Die Parallelen sind unverkennbar: Autor Stephan Quentin, geboren 1964 in Kiel, ist passionierter Segler und arbeitete bis vor Kurzem als Hausarzt in England – so wie seinerzeit David Lewis.
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