Walbekanntschaften

Was geschieht mit einem Fotografen, der wochenlang vergeblich in der eisigen kanadischen Arktis darauf wartet, dass ihm seine Objekte, Narwale, endlich vor die Linse schwimmen?

Dies ist die Geschichte eines Mannes, der auszog, um dem Bild eines Fabelwesens nachzujagen. Aber zugleich ist es auch eine Parabel über den Eigensinn der Natur, über Mächte, die unser Leben bestimmen, sowie über eine Grenzerfahrung, die zum Schicksal der Spezies Mensch zählt, weil sie an jener für seine Unvollkommenheit bezeichnenden Grenze gemacht wird, die den Erfolg vom Misserfolg scheidet. Es ist die Geschichte eines Scheiterns. Ivo Kocherscheidt heißt unser Mann, und das ist ein klangvoller Name in der Welt einer besonderen Sparte des Beutemachens mit der Kamera: der Unterwassertierfotografie.

Der 35-jährige Österreicher gilt als Koryphäe seines Gebiets, ein kundiger Experte der Jagd nach Bildern in der submarinen Biosphäre, ein fotografischer Freibeuter der Meere mit branchentypischem Hang zu Abenteurertum und Weltenbummelei, versehen nicht nur mit den notwendigen Genen, sondern zudem mit einschlägigem akademischem Lorbeer, nachdem er Unterwasserfotografie in Los Angeles an der einzigen Universität, die dieses Fach lehrt, studiert hat.

Obschon zuvor eher die südlichen, warmen Regionen des Globus sein Revier gewesen waren, zögerte er nicht, als er von mare beauftragt wurde, sich hinauf in die Kälte zu begeben, zur Baffin Bay im Nordosten Kanadas, an den Rand des ewigen Eises der Arktis, in den Grenzbereich der Bewohnbarkeit des Planeten – dorthin, wo ein höchst exotisches Geschöpf zu Hause ist, das ins Bild zu bannen eine Herausforderung von eigenem Rang bedeutet.

Sein Name ist Narwal, auch das Einhorn des Meeres genannt. Von jeher umgibt ihn ein Netz aus mancherlei Mutmaßungen, und schuld daran ist ein merkwürdiger, schraubenförmiger Auswuchs an seinem Oberkiefer, der ihn zum Unikum macht, sein Stoßzahn. Der kann, bei einer Körperlänge von vier bis fünf Metern, bis zu fast drei Metern messen, während sein Pendant, ein weiterer Oberkieferzahn, unsichtbar bleibt. Der Stoßzahn ist in erster Linie Manneszier, kommt aber auch bei Weibchen hin und wieder vor, und lange war völlig unklar, wozu er eigentlich nütze ist. Zum Durchbrechen der Eisdecke diene er oder zum Aufspießen von Fischen, hieß es. Neuerdings gilt unter Walforschern als wahrscheinlicher, dass es sich wahlweise um ein Dominanzmerkmal in der Fortpflanzungshierarchie handelt oder um ein Sinnesorgan, eine Art Sensor. Der Zahn enthält zehn Millionen Nervenenden, mit deren Hilfe, so die Wissenschaft, sein Besitzer vermutlich neben Wassertemperatur und -druck auch die Konzentration des Salzgehalts und Beutemengen in Abhängigkeit von der Tiefe orten kann.

Aber so ganz sicher weiß man das nicht, wie überhaupt erstaunlich wenig über diesen Meeresbewohner bekannt ist, und das, obschon er seit Menschengedenken von den arktischen Ureinwohnern, den Inuit, gejagt wird. Denn immer war er zugleich auch nicht nur ein Objekt von Vermutungen, sondern, mehr noch, von Legenden und Sagen, eine Beute der Fantasie, ein Phantom aus dem Reich der Esoterik. Das geht zurück bis auf biblische Zeiten – und ist im Grunde nichts anderes als ein großes Missverständnis. Schon lange vor Beginn unserer Zeitrechnung geisterte das sagenhafte Einhorn, eine angeblich rinder- oder ziegenähnliche Kreatur, durch die Vorstellungswelt der Menschen, auch wenn es nie jemand glaubhaft zu Gesicht bekommen hatte. Doch im dritten vorchristlichen Jahrhundert schien seine Existenz mit einem Mal zweifelsfrei belegt zu sein, tauchte es doch sozusagen leibhaftig im Alten Testament auf. Dass dies allein aufgrund eines Übersetzungsfehlers geschah – Gelehrte des Ägypterkönigs Ptolemäus II. machten aus dem gewöhnlichen Auerochsen bei der Übertragung ins Griechische einen einhornigen „Monokeros“ –, tat dem Glauben keinen Abbruch. Nur fehlte eben immer noch der physische Beweis. Der war schließlich gefunden, als um das Jahr 200 n. Chr. ein römischer Gelehrter den Narwal ins Spiel brachte. Endlich hatte man das fabelhafte Tier am Horn – wenn auch nicht als Vierbeiner, sondern als schwimmendes Geschöpf der nördlichsten Meere.

So mutierte der Narwal zum mythologischen Surrogat, musste als greifbarer Ersatz herhalten für ein fiktives Wesen aus dem Land der Fantasie. Sein Zahn wurde zur begehrten Trophäe, ähnlich wie der des Rhinozeros oder des Elefanten, aber noch bei Weitem wertvoller. Der Gegenwert, den man auf die Waagschale legte, erreichte zeitweilig das Zwanzigfache des Zahngewichts in Gold. Man schrieb dem „Ainkhürn“, das als Antidot galt, Zauberkraft und entgiftende Wirkung zu. Zu Pulver zerrieben, wurde es unter anderem gegen die Pest eingesetzt. Ein Becher, geschnitzt aus dem Horn, schützte angeblich vor Vergiftungen, was diese besondere Substanz vor allem für mittelalterliche Herrscher interessant machte. Bischöfe ließen sich daraus kostbare Pontifikalstäbe fertigen. Kreuzritter raubten zwei Narwalzähne in Konstantinopel und schenkten sie dem Markusdom in Venedig, wo sie noch heute aufbewahrt werden. In Dänemark kam 1671 erstmals ein Königsthron zum Einsatz, der vollständig aus Narwalzähnen hergestellt wurde. Das Zepter der französischen Könige bestand daraus, und auch die Habsburger hatten einen Zahn und mehrere Objekte aus Ainkhürn in ihrem Thronschatz. Noch bis ins vorletzte Jahrhundert wurde das Einhornpulver Alicorn in Europas Apotheken angeboten, die sich vielfach sogar nach dem Einhorn benannten.


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mare No. 90

No. 90Februar / März 2012

Von Benjamin Worthmann und Ivo Kocherscheidt

Mathias Zschaler (Benjamin Worthmann ist sein Pseudonym) , geboren 1947, lebt als Journalist und Autor in Berlin. Sein Roman Etwas ist immer ist bei Goldmann erschienen.

Ivo Kocherscheidt, Jahrgang 1974, lebt in Wien und New York. Eine triumphale Kooperation mit dem Tier erlebte er für mare zuletzt in der pazifischen Cortezsee vor Mexiko, als er Humboldtkalmare fotografierte.

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Vita Mathias Zschaler (Benjamin Worthmann ist sein Pseudonym) , geboren 1947, lebt als Journalist und Autor in Berlin. Sein Roman Etwas ist immer ist bei Goldmann erschienen.

Ivo Kocherscheidt, Jahrgang 1974, lebt in Wien und New York. Eine triumphale Kooperation mit dem Tier erlebte er für mare zuletzt in der pazifischen Cortezsee vor Mexiko, als er Humboldtkalmare fotografierte.
Person Von Benjamin Worthmann und Ivo Kocherscheidt
Vita Mathias Zschaler (Benjamin Worthmann ist sein Pseudonym) , geboren 1947, lebt als Journalist und Autor in Berlin. Sein Roman Etwas ist immer ist bei Goldmann erschienen.

Ivo Kocherscheidt, Jahrgang 1974, lebt in Wien und New York. Eine triumphale Kooperation mit dem Tier erlebte er für mare zuletzt in der pazifischen Cortezsee vor Mexiko, als er Humboldtkalmare fotografierte.
Person Von Benjamin Worthmann und Ivo Kocherscheidt