Von Seesäcken, Schuhkoffern und reiselustigen Elefanten

Koffer sind Symbole des Reisens, Metaphern für Globalisierung und Zeichen des Übergangs in neue Welten. Ein kurze Geschichte


Das Mädchen steht vor einer großen Aufgabe. Christine soll packen, hat ihre Mutter gesagt. Es geht nach Deutschland, in jenes ferne, fremde Land. Christine Blumenau ist zwölf Jahre alt, und sie muss alles mitnehmen, was ihr lieb ist. Den Schrankkoffer hat sie gefüllt, jetzt kommt ihr persönlicher Koffer an die Reihe. Ein mächtiges Ding, knapp einen Meter lang, elfeinhalb Kilo schwer, aus Mischgewebe gefertigt, mit Holzbeschlägen und Schlössern versehen. „C. Blumenau“ steht in großen Buchstaben auf dem Deckel. Ihr Vater hat den Koffer aus Deutschland für den Umzug mitgebracht. Christine packt ein: Bücher vor allem. Eines mit Gedichten, eine Ausgabe von Wilhelm Busch, das noch ganz neu ist. Ihr geliebtes Oblatenbuch. Darin hat sie Hunderte Lackbilder geklebt, Kindergesichter, Schiffe, japanische Damen, Tiere aller Art, auch preußische Könige. Dann legt sie ihren Trinkbecher hinein, vielleicht auch ihren Kinderteller. Und ein paar Kleider. Christine hat wenig elegante Garderobe, sie klettert mit ihrer Schwester Gertrude oft auf Bäume, um Mandarinen zu pflücken, sie gehen im Urwald spazieren.

Dann ist der Koffer voll. Einiges muss zurückbleiben in Blumenau. So heißt ihre Heimat. Vater Hermann Blumenau hat die Kolonie 1850 im Süden Brasiliens gegründet. Es geht 50 Kilometer bis zum Hafen, mit dem Schiff übers Meer. Im Bauch liegt der Koffer mit der Aufschrift „C. Blumenau“. Die Geschichte ist lange her, aber noch nicht zu Ende. Das Jahr: 1882.

Koffer packen: Fernweh und Vorfreude wechseln sich ab, Heimat und Ziel vermischen sich. Ferne Düfte steigen im Kopf auf, Geräusche werden wieder hörbar. Flughafendurchsagen, Stimmengewirr in fremden Sprachen. Auch Meeresluft und Möwengeschrei und Schiffshupen. Am Reiseziel angekommen, wiederholt sich das Ganze im umgekehrten Sinn. Kurt Tucholsky notierte 1927 beim Auspacken: „Die Sachen im Koffer sprechen nicht die Sprache des Landes, nicht die Sprache der Stadt, in der du dich befindest. Ihre stumme Ordnung, ihre sachliche Sauberkeit im engen Raum sind noch von da drüben. Da liegen sie und sprechen schweigend.“ Koffer erzählen Geschichten. Koffer sind Symbole des Reisens, Metaphern für Globalisierung und Tourismus, aber auch sichtbare Zeichen des Übergangs in neue Welten.

Auf der New Yorker Ellis-Insel kamen ab 1892 über viele Jahre die Einwanderer aus Europa an. Wer heute das dortige Museum besucht, sieht Hunderte Koffer als Zeugen einer Weltumwälzung. Der Traum der Selbstverwirklichung und des Neuanfangs hat Bilder hinterlassen. Lederkoffer, Pappkoffer, mit Seilen zugebunden, Weidekisten, Holzkoffer mit Beschlägen und schweren Schlössern. Auch die Kehrseite der freiwilligen Auswanderung übers Meer hat den Koffer als Bild. Jeder Flüchtling war mit wenigen Habseligkeiten unterwegs, seinen sonstigen Besitz zurücklassend. Das bisschen, was hastig gerettet werden konnte, ging im Koffer an der Hand auf das letzte Schiff, auf den Leiterwagen. Das letzte Gepäck begleitete Menschen zur Deportation, in den Tod. Berge aus Koffern lagerten in den „Effektenkammern“ von Auschwitz und anderen Lagern.

Es geht um Transport, um Bewegung, Veränderung. Der Besitzer packt sein Leben in den Koffer und nimmt es mit. Das Reiseutensil gewährt Halt und steht für Vertrautheit. Womöglich ist das der Grund, warum Koffer so selten weggeworfen werden. Sie überdauern auf Dachböden und in Kellern, werden immer wieder hervorgeholt, weil sie Erinnerungen versinnbildlichen und wie stumme Kameraden zur Seite stehen.

Im Nachlass der Schauspielerin Marlene Dietrich fanden sich insgesamt 80 Gepäckstücke: Schränke, Koffer, Hutschachteln, Schminkkoffer. Die Dietrich war vor ihrem Tod 1992 viele Jahre nicht mehr gereist, aber sie behielt alle Reiseutensilien in ihrer Wohnung in Paris. Die meisten ihrer frühen Koffer stammten von der Berliner Firma Albert Rosenhain, die in den 1930er-Jahren für den Schrankkoffer „Imperator“ warb. Dietrichs Schuhkoffer war für 30 Paare ausgerichtet, und selbstverständlich waren alle Koffer mit den großen Initialen M.D. bedruckt. Oft überquerte Marlene Dietrich mit dem Gepäck den Atlantik. Bei ihrer ersten Ankunft in New York 1930 musste sie morgens das Schiff im schwarzen Kleid und Nerz verlassen. „Meine großen Schrankkoffer waren unten im Schiffsladeraum. Ich stieg hinunter, den Schlüssel in der Hand und in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, das den Amerikanern gefallen würde“, schrieb sie.

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mare No. 77

No. 77Dezember 2009/ Januar 2010

Von Holger Kreitling

Holger Kreitling, Jahrgang 1964, arbeitet im Ressort Magazin/Reportage der Welt in Berlin. Nach Jahren mit dem Rucksack reist er nun mit Reisetaschen. Sein einziger richtiger Koffer ist ein Überbleibsel aus der Kindheit Marke „Doktorspiele“. Das Auswanderermuseum Ballinstadt in Hamburg sucht für seine Ausstellung übrigens Koffer von 1800 bis 1950.

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Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, arbeitet im Ressort Magazin/Reportage der Welt in Berlin. Nach Jahren mit dem Rucksack reist er nun mit Reisetaschen. Sein einziger richtiger Koffer ist ein Überbleibsel aus der Kindheit Marke „Doktorspiele“. Das Auswanderermuseum Ballinstadt in Hamburg sucht für seine Ausstellung übrigens Koffer von 1800 bis 1950.
Person Von Holger Kreitling
Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, arbeitet im Ressort Magazin/Reportage der Welt in Berlin. Nach Jahren mit dem Rucksack reist er nun mit Reisetaschen. Sein einziger richtiger Koffer ist ein Überbleibsel aus der Kindheit Marke „Doktorspiele“. Das Auswanderermuseum Ballinstadt in Hamburg sucht für seine Ausstellung übrigens Koffer von 1800 bis 1950.
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