Von Mussolini zu Microsoft

Aus einer futuristischen Ferienanlage der italienischen Faschisten wird ein Themenpark „Mensch und Meer“

Der Weg zu „Le Navi“ führt an der italienischen Adriaküste entlang zum Badeort Cattolica, vorbei am endlosen Spalier von Hotels und Ferienpensionen, vorbei an Minigolf-Anlagen und galaktischen Wasserparks. Zum Greifen nah und doch fern das Meer, verbarrikadiert hinter den bunten Lattenzäunen der Strandbäder: die weltbekannte, beispiellose Ferienindustrie an der längsten Sandküste Europas, lückenlos, flächendeckend.

Ganz anders „Le Navi“, zu deutsch „Die Schiffe“. Hinter dem von Oleandern gesäumten Eingang tut sich ein weites freies Areal aus Gras und Sand auf, das bis an den Schaum der kurzen Wellen des Mittelmeers heranreicht. Ein paar flache Bauten liegen verstreut, oval abgerundete Häuser im flauen Schatten von Pappeln, dann ein breites, über mehrere Ebenen hierarchisch gestuftes Gebäude mit einer Art Ausguck auf dem Dach, offenbar das Zentrum der Anlage, die Kommandobrücke eines Admiralschiffs. Schließlich zwei langgestreckte, schmale Baukörper, die parallel auf dem struppigen Sandboden liegen, mit Wänden, die sich Schiffsbäuchen ähnlich nach unten verjüngen, zum Kiel hin, das aluminiumgraue Flachdach stromlinienförmig abfallend. Alle Bauten sind einmal weiß gekalkt gewesen, doch die Salzluft frisst am Putz.

Schwer einzuordnen ist dieser Komplex. Eine Raumstation aus den Anfängen der Science-fiction, irgendwo verloren in der Wüste? Eine auf einer Sandbank liegengebliebene Flotte? Ausrangierte Flug- oder Schwimmkörper, die einst auf einen neuen Einsatz lauerten? Eine eigentümliche Spannung geht von ihnen aus, nahezu ein Gegensatz zwischen Anspruch und Wirkung. Torpedobooten gleich richten sie ihre Bugspitzen zielgerade auf die Adria, um wie gestrandet im Sand verankert zu verharren.

Noch bis vor zwei Sommern beherbergten „Le Navi“ das „Centro Internazionale per Giovani“, ein Sommerferiencamp zum internationalen Jugendaustausch. Jetzt bohren sich Unkrautbüschel durch Mauerspalten und zwischen Treppenstufen hervor, Gras hängt aus den Dachrinnen, rostig zerbröseln die dunkelblau lackierten Eisenrahmen der Türen und Fenster. Im riesigen Speisesaal hinter den schmutzigen Glastüren, die im Sommer aufs Meer hinaus geöffnet waren, stehen ein aufgebocktes Motorboot und ein Fiat Punto anstelle von Stühlen und Tischen. Andere Türen klaffen sperrangelweit. Der Wind hat Sommerstaub und Herbstblätter in die Waschsäle und unter die Toilettentüren geblasen. Draußen auf die Hauswand hat jemand den Namen Ingrid gekritzelt. Alles liegt verlassen, wie aufgegeben da.

Doch nichts ist aufgegeben, und gerade hinter dieser gottverlassenen Anlage steckt ein Plan, geradezu eine Aufgabe. Hin und wieder passiert das ja, daß man auf Gebäude und Orte mit einem besonderen Schicksal stößt. Originelle, einmalige Orte, denen die Fügung immer wieder die Rolle zuweist, Zeitzeuge zu werden, dem Zeitgeist Herberge zu sein. „Le Navi“ ist so ein Ort.

Ab 1932 wurden die „Schiffe“ errichtet, zehn Jahre nach der Machtergreifung Mussolinis. Die demokratischen Einrichtungen wie Parteienvielfalt, freie Wahlen, Gewerkschaften und Pressefreiheit waren zerstört und durch die Institutionen und Organisationen des Regimes ersetzt. Besonders gegen den Einfluss der Kirche gerichtet waren die Jugendorganisation „Opera Nazionale Balilla“ – der auch die vormilitärische Erziehung oblag – sowie das Mutter-und-Kind-Werk „Opera Nazionale Maternità e Infanzia“, die großen Auftraggeber der „Colonie Marine“, der Sommerferienheime am Meer.

Erholungsheime für Kinder waren nichts Neues. Es gab sie an den italienischen Küsten schon als eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, des Zeitalters der Nationalstaatsbildung und der ersten Sozialgesetzgebungen. Großindustrielle mit philanthropischem Engagement und Amtsärzte, die von der Regierung beauftragt waren, traten den Kampf gegen den katastrophalen Pauperismus auf dem Land und in den städtischen Elendsvierteln an, der besonders die Kleinen traf. Die Kindersterblichkeit lag manchmal bei 30 bis 40 Prozent.

Zugleich entdeckten die Menschen die Küste, nun nicht mehr nur als Revier der Fischer oder als Hafenanlage. Vielmehr erkannten sie den Strand, die Sonne, das Salzwasser, kurz das Reizklima als wohltuend und stärkend. Neben den ersten Hotels für die Muße der Elite entstanden Hospize und Pensionen – und Sanatorien für die Kinder der Armen als Therapie gegen Mangelkrankheiten wie Rachitis, Tuberkulose und Skrofulose.

Den Faschisten ging es nicht nur um die physische, sondern auch um die mentale „Aufrüstung des Volkskörpers“. Und so entstanden in den dreißiger Jahren längs der italienischen Mittelmeerküste – und vor allem hier an der Adria bei Cervia, Rimini und Cattolica – hunderte Ferienheime. Über eineinhalb Millionen Kinder kamen in den Jahren des Regimes in den Genuß paramilitärisch organisierter Sommerfreizeiten. Der Strand von Cattolica war bei den faschistischen Parteibonzen besonders beliebt. Italo Balbo, Mussolinis Luftwaffenminister, pflegte hier gar vor dem flachen, seichten Strand mit seinem Wasserflugzeug zu landen.

Die Anlage „Le Navi“ war das Strandferienheim für die kleinen Töchter und Söhne der Arbeitsemigranten, die nach Amerika, Argentinien oder ins Ruhrgebiet ausgewandert waren.

Auf alten Bildern sieht man magere Kinder in schwarzen Badehosen am Strand spielen, im Spalier turnen, in Kitteln in Reih und Glied spazieren gehen. Schwarzgekleidete Herren schreiten vor den weißen „Schiffen“ einher, Inspektoren und Honoratioren, und mitten unter ihnen Mussolini mit gewölbter Brust und in blanken, schwarzen Stiefeln, an einem Junitag im Jahr 1934, auf der Einweihungsfeier dieser „Fabrik der Gesundheit und der Kraft“, die man „Colonia Marina XXVIII Ottobre“ taufte, ein wichtiges faschistisches Datum: Am 28. Oktober 1922 waren mehr als 20000 „Schwarzhemden“ aus ganz Italien zusammengeströmt. Dieser „Marsch auf Rom“ löste die Machtergreifung Mussolinis aus: Der italienische König machte ihn zum Regierungschef.

Die Bilder zeigen den riesigen Speisesaal im Erdgeschoß des Admiralschiffs: lange Tische in ordentlichen Reihen, darüber eine Kanzel, auf der die Silhouette des „Duce“ zu erkennen ist. Von hier oben aus gingen Ansprachen hernieder, wurden die Kinder mit strengem Blick kontrolliert. Heute baumelt eine verbeulte Plastikente von der Kanzel.

Man sieht auch die Schlafsäle von damals, endlose Reihen von Schlafkojen in den Schiffsbäuchen, Matrosenlager. In der Zeitschrift des „Nationalen Syndikats der faschistischen Architekten“ ist nachzulesen, was diese Architektur für die kleinen Auslandsitaliener, zum ersten Mal im Land ihrer Eltern, bedeuten sollte: „Nur wenn die Kinder die Möglichkeiten haben, die Schönheit und die Stärke ihres Ursprungslandes kennenzulernen und zu bewundern, wird ihre Verbundenheit von Dauer sein: eine leuchtende Kindheitserinnerung kann im Geist dieser zukünftigen Männer und Frauen eine tiefere und dauerhaftere psychologische Prägung hinterlassen als jede spätere Propaganda. Die Kinder kommen her, um ein klein wenig Freude am Meer Italiens zu genießen, um das starke und sportliche Leben der Matrosen zu leben.

Ideal wäre es natürlich, dies an Bord echter Schiffe zu erfahren, zu segeln, Marinemanöver zu üben. Was selbstverständlich unmöglich ist. Daraus kam die Idee, diese Art von auf Land verankerten Schiffen zu bauen. Nur derart lässt sich der architektonische Objektivismus und Symbolismus erklären, der diese Gebäude inspiriert hat. Denen etwas von der Lustigkeit eines mechanischen Spielzeugs anhaftet und die dabei voll bautechnischer Raffinesse sind.“

In der Tat gelten „Le Navi“ als herausragendes Beispiel für die Anwendungsvielfalt und „Biegsamkeit“ von Beton. Verstrebungen aus Betonguss, formgebende Innenskelette, die dann mit einer Betonschicht ummantelt wurden, erlaubten unorthodoxe Volumen und Formen von erstaunlicher Leichtigkeit und von derart guter Qualität, dass die Bausubstanz unversehrt erhalten blieb. Die grauschillernden Aluminiumdächer und Fensterrahmen aus Eisen trugen zum Erscheinungsbild architektonischer Modernität bei.


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mare No. 14

No. 14Juni / Juli 1999

Von Bettina Dürr und Ann Weitz

Bettina Dürr, Jahrgang 1955, lebt als Reisebuchautorin und freie Journalistin in Bologna und Düsseldorf. In der Marco-Polo-Reihe erschienen soeben ihre beiden Reiseführer Emilia Romagna und Venetien/Friaul. Bei Lübbe erscheint im Herbst ein Buch über alte Pilgerrouten in Italien.

Ann Weitz, Jahrgang 1950, hat ein Fotostudium in Düsseldorf absolviert und arbeitet dort als freie Fotografin

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Vita Bettina Dürr, Jahrgang 1955, lebt als Reisebuchautorin und freie Journalistin in Bologna und Düsseldorf. In der Marco-Polo-Reihe erschienen soeben ihre beiden Reiseführer Emilia Romagna und Venetien/Friaul. Bei Lübbe erscheint im Herbst ein Buch über alte Pilgerrouten in Italien.

Ann Weitz, Jahrgang 1950, hat ein Fotostudium in Düsseldorf absolviert und arbeitet dort als freie Fotografin
Person Von Bettina Dürr und Ann Weitz
Vita Bettina Dürr, Jahrgang 1955, lebt als Reisebuchautorin und freie Journalistin in Bologna und Düsseldorf. In der Marco-Polo-Reihe erschienen soeben ihre beiden Reiseführer Emilia Romagna und Venetien/Friaul. Bei Lübbe erscheint im Herbst ein Buch über alte Pilgerrouten in Italien.

Ann Weitz, Jahrgang 1950, hat ein Fotostudium in Düsseldorf absolviert und arbeitet dort als freie Fotografin
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