Von der Kunst, Wellen neu zu erfinden

Eine grandiose Heidenarbeit: Ein japanischer Fotografiekünstler schuf während des Pandemielockdowns aus Abertausenden von Wellen­bildern eine riesige Collage. Sie zeigt – Wellen

Jedes Mal, wenn der Fotograf Sohei Nishino für seine Arbeiten an einem neuen Ort ankommt, verbringt er dort in der Regel einen Monat, in dem er die Landschaft zu Fuß erkundet und dabei permanent fotografiert. Er fängt alle Szenen des alltäglichen Lebens ein, die ihm begegnen, alle Details, die ihm ins Auge stechen. Wenn er dann zurück in ­seinem Studio ist, zerschneidet Nishino die entstandenen Kontaktbögen und beginnt, seine Bilder mit den Händen zu einem riesigen Panorama zusammenzuordnen.


Bis zu 40 000 einzelne Fotografien werden auf diese Weise wie winzige, überlappende Pixel zu einer ausladenden Vogelper­spek­tivencollage gefügt. Nishino selbst bezeichnet sie als „Dioramalandkarten“.


Seit 2003 hat Nishino mehr als 20 solcher Dioramalandkarten von Städten auf der ganzen Welt angefertigt, San Francisco, Istanbul, Kyoto, Jerusalem, Rio de Janeiro, Neu-Delhi, Havanna. Dazu kommen Karten von Naturlandschaften: 2018 etwa bereiste er den italienischen Fluss Po in seiner kompletten Länge. Jeder Karte liegt die gleiche Art von Aufenthalt zugrunde, bei dem er ziellos umherwandert, Details bemerkt, scharfstellt und auslöst: Wolkenkratzer, Marktplätze, Schnellstraßen, Minarette, ein Mann mit einem Karton unter dem Arm, ein Junge mit einem Baseballhandschuh und nacktem Oberkörper, zwei schlafende Hunde. Er war 20, als er seine erste Dioramakarte in Angriff nahm. Jetzt ist er 38. Er hat also fast sein gesamtes Erwachsenenleben mit einer Form des Reisens verbracht, die mehr ist als nur das, nämlich das vollkommene Eintauchen in einen neuen Ort. Man kann sich vorstellen, wie eingezwängt er sich gefühlt hat, als die Coronapandemie 2020 den internationalen Reiseverkehr lahmlegte. Plötzlich saß er zu Hause fest, im Vakuum seines erbarmungslos eingeschränkten Fleckchens Erde, genauso wie einer der winzigen Menschen, die er in seinen Karten verklebt.

Nishino wohnt im japanischen Mishima, einer Küstenstadt nahe der pfeilspitzenartigen Landmasse voller Berge, die man als Izu-Halbinsel bezeichnet. Sein Studio ist in einem kleinen Fischerdorf in der Nähe. Im Februar 2020 fing er an, in der Gegend zu fotografieren. Aber seine Aufmerksamkeit war auf einen Teil der Landschaft fixiert, der eigentlich nicht Teil der Landschaft selbst ist: Er sah den Ozean, er sah die Wellen. 

Aus dem Amerikanischen von Patrick Ploschnitzki

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mare No. 155

mare No. 155Dezember 2022 / Januar 2023

Von Sohei Nishino und Jon Mooallem

Sohei Nishino, Jahrgang 1982, ist als Künstler für seine Fotografie und Collagen ­bekannt. Sie werden weltweit ausgestellt, etwa im International Center of Photo­graphy in New York und dem San Francisco ­Museum of Modern Art.

Jon Mooallem ist freier Autor, unter anderem des Buchs „This Is Chance!“ über das Große Alaska-Beben von 1964.

Nishinos Wellenbild misst im Original 90 mal 254,7 Zentimeter. Die Abbildung auf den Seiten 84/85 zeigt es in seiner Gesamtheit, die weiteren Bilder in Details.

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Vita Sohei Nishino, Jahrgang 1982, ist als Künstler für seine Fotografie und Collagen ­bekannt. Sie werden weltweit ausgestellt, etwa im International Center of Photo­graphy in New York und dem San Francisco ­Museum of Modern Art.

Jon Mooallem ist freier Autor, unter anderem des Buchs „This Is Chance!“ über das Große Alaska-Beben von 1964.

Nishinos Wellenbild misst im Original 90 mal 254,7 Zentimeter. Die Abbildung auf den Seiten 84/85 zeigt es in seiner Gesamtheit, die weiteren Bilder in Details.
Person Von Sohei Nishino und Jon Mooallem
Vita Sohei Nishino, Jahrgang 1982, ist als Künstler für seine Fotografie und Collagen ­bekannt. Sie werden weltweit ausgestellt, etwa im International Center of Photo­graphy in New York und dem San Francisco ­Museum of Modern Art.

Jon Mooallem ist freier Autor, unter anderem des Buchs „This Is Chance!“ über das Große Alaska-Beben von 1964.

Nishinos Wellenbild misst im Original 90 mal 254,7 Zentimeter. Die Abbildung auf den Seiten 84/85 zeigt es in seiner Gesamtheit, die weiteren Bilder in Details.
Person Von Sohei Nishino und Jon Mooallem