Vom Zauber der Schiffskabine

Auf dem labilen Boden eines Schiffs ist niemand vor einem Fehltritt sicher

Daß es sich auch auf gewöhnlichen Fluß- und Seekähnen im „Dunklen gut munkeln“ läßt, weiß wohl jeder aus eigener Erfahrung. Darin besteht ja die „Romantik des Reisens“, worauf vor kurzem Kurt Münzer hingewiesen hat: die schöne Frau oder das Fräulein Steffi oder Mizzi, die dir daheim in der Stadt mit freundlicher Entschiedenheit widersteht, sie sinkt schmachtend in einem Kahn auf dem abendlichen Wolfgangsee in deine Arme. Hier ist’s kein Verbrechen mehr. Sie ist ja nicht Gattin, Mutter, Frau N. oder Frl. X – hier ist sie eine andere, Fremde, Unbekannte, Verwandelte. Im September, wenn sie heimkehrt, bleibt das alles zurück: Flirt, Liebe, Ehebruch; dann ist sie wieder Gattin, Frau N. oder Frl. X. Das andere ist nie gewesen, war ein Reisetraum, ein Reiseerlebnis, eine andere Welt. — — —

In vergrößerten Dimensionen findet sich die Schiffserotik natürlich auf den Ozean-Dampfern. Wie es tatsächlich um das Liebesleben auf den großen Passagierdampfern bestellt ist – „das Milieu eines Ozeandampfers“, sagt Graf Keyserling in seinem ,Reisetagebuch eines Philosophen‘, „bezeichnet die beste mir bekannte Karikatur der ,Welt‘“ –, hat es vor kurzem ein gewisser Schiffsarzt, der viele Jahre auf unzähligen Schiffen über die Meere gebummelt, in interessanter Weise dargestellt. Die Schilderung des Arztes bilden eine willkommene Ergänzung unserer Kenntnisse über das Sexualleben der Seeleute, über das Aufschlußreiches im Kapital „Hafen“ dieses Bandes gesagt wird, weil sie in fesselnder Weise über die sogenannte „Bordliebe“, ein bisher wenig bekanntes Gebiet des menschlichen Liebeslebens, Auskunft geben und uns in die „Geheimnisse der S c h i f f s k a b i n e n“ einführen. War es auch bisher bekannt, daß sich unter den Stewardessen der Luxusdampfer, wie Ulitzsch sich ausdrückt, genug geheime Prostituierte befinden, die aus dem bezahlten Geschlechtsverkehr ihre Haupteinnahme ziehen, so belehrt uns Rosenberger auf Grund seiner eigenen Beobachtungen des „Bord-Eros“, daß keine weibliche Kategorie immun ist. „Das Mädchen“, so behauptet er mit gewissen Einschränkungen, „die Braut, Witwen, verheiratete Frauen, Geschiedene, die Frau auf der Hochzeitsreise, – keine ist auf dem labilen Schiffsboden vor einem Fehltritt sicher, vor einem Abgleiten vom Pfade der Tugend.“ Wo liegen nun die Ursachen dieser merkwürdigen Erscheinung? Welche Momente sind es, durch die die erotischen Gefühle der auf schwankem Schiffe Reisenden so mächtig beeinflußt werden? Es sind vor allem die Eigenheiten des Schiffsmilieus, also psychische Kräfte, die hier gleichsam die Rolle eines Kupplers spielen, dann aber auch örtliche Umstände, die in solcher Form und Verknüpfung auf dem Festlande nicht zur Geltung kommen.

Da wäre in erster Linie auf die mehr oder weniger beschränkten Raumverhältnisse auf den Schiffen hinzuweisen, die eine leichtere und bequemere Gelegenheit zur Anknüpfung näherer Beziehungen bieten, als dies auf dem Festlande möglich ist. Wobei die Größe des Schiffes – sei es nun ein kleiner Personendampfer oder ein großer Luxusdampfer – nicht in Betracht kommt, da sich auf beiden intime Kontaktmöglichkeiten ergeben. Hingegen fällt ins Gewicht, ob es sich um einen Dampfer handelt, der eine wochenlange Reise zu erledigen hat, oder um einen Eildampfer, der zum Beispiel in dreitägiger Fahrt von Europa nach Konstantinopel oder Aegypten läuft. Denn hier spielen wieder psychische Momente eine erhebliche Rolle.

Während auf Schiffen weiter Fahrt, sagt Rosenberger ganz richtig, die beträchtliche Reisedauer sich als Anstifterin zu Liebeleien hervortut, also das wochenlange Gebundensein an ein gemeinsames, einsames, über die Ozeane wanderndes Wohnhaus, in dem die Bewohner von der Langeweile umkreist und nach und nach zu einem unvermeidlich engeren Kontakt gedrängt werden, ist es im Gegenteil auf dreitägiger Meerfahrt gerade der kleine Zeitraum, der die erotischen Gefühle der Schiffsinsassen mächtig anfacht und zu raschem Handeln nötigt. Dazu kommt auf solchen Eildampfern kurzer Fahrt noch die Anonymität zu Hilfe, welche Männlein und Weiblein zu rasch vorübergehenden Liebesromanen geneigter macht. Ist doch auf solchen Schiffen in der Regel ein Passagier dem anderen eine unbekannte Größe. Es fehlt die Zeit, einander näher kennen zu lernen und Genaueres über Stand, Namen, Herkunft und Privatverhältnisse des Mitreisenden in Erfahrung zu bringen. Um so geheimnisvoller, um so romantischer ist dann das Liebesabenteuer.

Daß auf langdauernden Schiffsfahrten eine längere sexuelle Abstinenz den Geschlechtstrieb ungestüm zu erregen vermag, braucht wohl nicht näher auseinandergesetzt zu werden. Daß auf Ozeandampfern neben dem dolce far niente auch üppige Tafelfreuden – ich denke hier an die männlichen und weiblichen Reisenden, die an der Speisetafel der I. Schiffsklasse sitzen – als kräftiges Aphrodisiacum in Betracht zu ziehen sind, soll nicht verschwiegen werden.

Als spezifisch, wenn wir so sagen dürfen, nautisch bedingte Sehnsucht nach geschlechtlicher Vereinigung ist jene zu bezeichnen, die in der Todesgefahr wurzelt, welcher Schiffspassagiere bei stürmischer See mitunter tatsächlich ausgesetzt sind oder ausgesetzt zu sein befürchten: „Es wütet das Meer, der nächtliche Sturm heult, Wellenberge gleich unförmlichen Titanenfäusten hämmern seit Stunden ununterbrochen gegen die eisernen Schiffswände. Das Schiff, das wie ein Riesenspielzeug auf dem Wasser herumgeworfen wird, scheint seinem letzten Stündlein entgegenzufahren...“ Da rücken Frauen und Männer instinktiv und triebhaft zusammen, schmiegen sich fester aneinander und werden um so lebhafter von der Sehnsucht nach körperlicher Vereinigung ergriffen, je mehr die See tobt und je größer die drohende Gefahr.

Solche Fälle weisen auf das metaphysische Problem „Liebe und Tod“ hin und hängen wie die Doppelselbstmorde, wo die beiden Liebenden oft beschließen, einander vor dem Tode noch körperlich zu besitzen, vielleicht mit der relativen Aufhebung der Individualität in der Wir-Bildung zusammen.

mare No. 31

No. 31April / Mai 2002

Ein Essay über die Sittengeschichte des Reisens

Aus: Sittengeschichte des Hafens und der Reise, Verlag für Kulturforschung, Leipzig 1927

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Vita Aus: Sittengeschichte des Hafens und der Reise, Verlag für Kulturforschung, Leipzig 1927
Person Ein Essay über die Sittengeschichte des Reisens
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