Vom Verlust der Ferne

Die Geschwindigkeit, ob von Flugzeug, Bahn oder Auto, ist der Tod der Distanz, und ohne Distanz kann das Ferne keine seelische Nähe werden. Es zeigt sich, dass allein die Ozeane uns noch das Gefühl von Ferne erhalten

Wer sich je mit einem kleinen Boot so weit von der Küste entfernt hat, dass er nur noch Wasser sah, wer durch Wellentäler trieb und über Wellenberge glitt, von Gischt durchnässt wurde und vom Wind getrocknet, wer in jeder Richtung nur noch Horizont erblickte, der weiß über das Gefühl absoluter Ferne. „Die Kimm“ nennt der Seemann den dünnen Streifen, der am Ende seiner Sicht das Meer vom Himmel trennt, und diese Linie ist nicht nur für seine Augen eine Grenze. Was dahinter liegt, ist vorgestellte Endlosigkeit, nur zu ahnen; und auch wenn er weiß, dass dort irgendwann einmal wieder Land erscheinen wird, folgen die Gefühle einer inneren Wahrnehmung, die alles, was dem Blick entschwunden ist, zur Ferne erklärt. Nirgends sonst außer in den Eiswüsten der Pole sind Entfernungen noch mit derartiger Intensität zu erleben wie auf den Meeren und Ozeanen. Weniger als 20 Seemeilen außerhalb von Küsten und Inseln reichen aus, um sich ohne Kompass und Karte in einem gefühlten Nirgendwo zu befinden, und bei diesiger Luft oder Nebel kann sich die Sichtweite drastisch verringern und den Eindruck der Ferne hinter dem Vorhang aus Wasserdunst im umgekehrten Verhältnis verstärken.

Seit der Globus für den Menschen der Moderne zu einer überschaubaren Reiselandkarte für Fernflieger und Kreuzfahrturlauber geschrumpft ist, seit die Entfernungen ihre Gefahren und die Beschwerlichkeiten bei den Versuchen zu ihrer Überwindung verloren haben, haben sie auch einen Teil ihres Reizes eingebüßt. Aber wer sich die Faszination der Grenzenlosigkeit, die eine Kugeloberfläche zu bieten hat, zurückerobern will, muss sich aufs Wasser begeben, mit einem kleinen Boot am besten, die Zeit vergessen und jedes Ziel aus den Augen und dem Sinn verlieren.

Der Mensch war ein Geher, als er von seiner kulturellen Wiege in Afrika zu Fuß den Rest der Welt eroberte, und es dauerte Hunderttausende Jahre, bis er Tiere wie Ochsen, Elefanten und Wildpferde zu zähmen und als Transportmittel zu nutzen begann, bis er anfing, aus Einbäumen erste primitive Wasserfahrzeuge herzustellen, Baumstämme zu Flößen verband und Schilfboote baute. Für lange Zeit war die Fortbewegung auf dem Wasser, auf Flüssen und küstennahen Gewässern der großen Meere der Distanzüberwindung auf dem Land überlegen. Erst wurde gerudert, aber schon lange vor der Antike hatten die frühen Seefahrer Möglichkeiten entdeckt, wie man mit Segeltuchen sogar ohne die Muskelkraft des Menschen vorankommt. Aber auch wenn die Evolution des Schiffbaus in der Neuzeit unerhörte Fortschritte machte, es nur eine kurze Zeit vom schnellen Teeklipper unter vollen Segeln bis zum Dampfschiff dauerte, blieb der Globus bis ins 19. Jahrhundert hinein noch voller weißer Flecken. Immer noch gab es die Ferne.

Selbst in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Bezeichnung Dampfer für die großen Frachter und Passagierschiffe mit ihren gigantischen Dieselmotoren nur mehr als Metapher überlebt hatte, traf man in den Hafenstädten an der Nordseeküste noch echte Seeleute, sturmerprobte Kapitäne, Steuermänner und Matrosen, für deren Wahrnehmung der Weg über die Meere ein anderes Verstreichen der Zeit bedeutete als für die Reisenden zu Lande oder die kleine Elite von Geschäftsleuten, die in jener Zeit mit der Super Constellation Amerika bereits so bequem wie schnell auf dem Luftweg erreichen konnte.

„Seemann … deine Freunde sind die Sterne … über Rio und Schanghai … deine Sehnsucht ist die Ferne“ tönten damals noch der Text und die Melodie eines inzwischen weitgehend vergessenen Fünfziger-Jahre-Schlagers aus den Lautsprechern der Röhrenradios. Und zu Weihnachten gab es eine Sondersendung für die deutsche Handelsmarine, für all die vielen Männer auf hoher See oder in fremden Häfen fern der Heimat.

Navigation auf den Ozeanen war in jener Zeit noch mit Bedingungen verbunden, die sich heute kaum jemand noch vorstellen kann. Da gab es kein weltweites Kommunikationsnetz, keine Satellitentelefonie, keine Positionsbestimmung per GPS, keine Fernflüge, die die Reisezeiten von Monaten auf Stunden reduzierten. Wer die Grenzen seines Landes hinter sich ließ, tat dies meistens auf dem Wasserweg, und seine Nabelschnur zur Heimat bestand mit dem Augenblick des Ablegens nur noch aus gelegentlichen Funkverbindungen, deren Qualität die Sprache nicht selten in eine Folge unverständlicher Geräusche verwandelte. Man verschickte Telegramme, die als aufgeklebte Papierstreifen von einem Postboten zum Empfänger gebracht wurden, oder man schrieb einfach einen Brief, der ein paar Wochen auf Reisen sein konnte, dafür aber nicht selten mit einer exotischen Briefmarke versehen war, die einen Ausschnitt der Ferne mit sich transportierte, dessen imaginative Intensität im umgekehrten Verhältnis zu seiner Winzigkeit bestand.


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mare No. 94

No. 94Oktober / November 2012

Von Ulrich Magnus Hammer

Ulrich Magnus Hammer studierte Kunst in Berlin und machte sich auf der Pariser Biennale einen Namen als Avantgardekünstler. In den 1970ern war er Mitglied der Kultband Ton Steine Scherben. Danach arbeitete er als Art Director. Seit 2000 widmet er sich allein dem Schreiben. Seine Romane Die Akte Serkassow und Fanal erschienen bei Edition Fredebold, als Feuilletonist verfasst er Beiträge über philosophische Themen und politische Essays.

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Vita Ulrich Magnus Hammer studierte Kunst in Berlin und machte sich auf der Pariser Biennale einen Namen als Avantgardekünstler. In den 1970ern war er Mitglied der Kultband Ton Steine Scherben. Danach arbeitete er als Art Director. Seit 2000 widmet er sich allein dem Schreiben. Seine Romane Die Akte Serkassow und Fanal erschienen bei Edition Fredebold, als Feuilletonist verfasst er Beiträge über philosophische Themen und politische Essays.
Person Von Ulrich Magnus Hammer
Vita Ulrich Magnus Hammer studierte Kunst in Berlin und machte sich auf der Pariser Biennale einen Namen als Avantgardekünstler. In den 1970ern war er Mitglied der Kultband Ton Steine Scherben. Danach arbeitete er als Art Director. Seit 2000 widmet er sich allein dem Schreiben. Seine Romane Die Akte Serkassow und Fanal erschienen bei Edition Fredebold, als Feuilletonist verfasst er Beiträge über philosophische Themen und politische Essays.
Person Von Ulrich Magnus Hammer