Vom Reiz der Inseln

Was unterscheidet das Leben auf einer Insel von dem auf dem Festland? Vor allem unsere Fantasie von Inseln als Orte der Utopie

Mit meiner Schwäche für Inseln bin ich natürlich nicht allein; Inseln sind bei Touristen aus aller Welt beliebt. Zahlreiche Hochglanzmagazine sind darauf ausgerichtet, die Suche nach Urlaub auf immer neuen Inseln mit Strand, Sonne und, zumindest unterschwellig, Sex zu bedienen. Wenn ich mir diese Magazine anschaue, dann fällt mir auf, dass diese immerwährende Suche nach dem Neuen eigentlich eine unablässige Wiederholung darstellt: Sandstrände am Tag, unterhaltsame Clubs am Abend, behagliche Hotelzimmer des Nachts, dazu vielleicht ein wenig Lokalkolorit aus Karibik, Mittelmeer oder Südsee und am Ende ein hochgeschätztes Andenken, das das Gleiche ist, wo auch immer man war: die makellose Sonnenbräune.

Das eigentlich Anziehende von Inseln ist die Tatsache, dass sie sich voneinander unterscheiden. Jede ist durch ihren ganz eigenen Umriss sofort erkennbar. Die Grenzen eines Bezirks vergleichbarer Größe lassen sich von Amts wegen ändern, die Konturen einer Insel hingegen bleiben unverändert – es sei denn, es geschieht etwas Dramatisches, ein Vulkanausbruch vielleicht, der zu neuer Landmasse führt, oder eine Sturmflut, die die Oberfläche erheblich verringern kann. Doch solche Ereignisse gibt es nur selten, und womöglich machen sie sogar eine so getroffene Insel noch interessanter. Nehmen wir Heimaey, eine kleine Insel vor der Südküste Islands. 1973 begrub ein Vulkanausbruch den halben Hauptort, Lava floss in den Hafen und verschloss beinahe den Zugang zum Meer. Heutzutage ist die Hafenzufahrt atemberaubend: Sie besteht aus einer Fahrrinne zwischen hohen Klippen.

Bei dem Wort „Insel“ muss man auch an „Isolation“ denken. In der Zoologie sind die Auswirkungen einer solchen Abgelegenheit wohlbekannt. Auf Inseln begegnen wir Tieren, die man nirgends sonst findet. Manchmal führen Insellagen zu Kleinwuchs, wie etwa bei den Shetlandponys. Andere Male führen sie zum Gegenteil: Aus Mangel an natürlichen Feinden werden manche Arten gigantisch groß, man denke nur an den ausgerotteten Dodo, einer truthahngroßen Taubenart auf Mauritius. Manchmal wird eine Inselspezies weder kleiner noch größer, verändert dafür aber die Form, wie zum Beispiel die Manx-Katze, die keinen Schwanz besitzt und umherhoppelt wie ein Kaninchen, weil ihre Hinterläufe länger sind. Es war eben diese Einzigartigkeit in der Fauna bestimmter Inseln, die Charles Darwin und Alfred Russel Wallace dazu brachte, die Evolutionstheorie zu entwickeln. Ersterer klassifizierte Finken und Schildkröten auf den Galapagosinseln, Letzterer beobachtete Tierarten im heutigen Indonesien.
In der Politik kann man ähnliche Einzigartigkeiten beobachten. Die kleinen Inselgebiete Europas besitzen häufig ein besonderes Verwaltungssystem, das ihnen entweder auf den Leib geschneidert wurde oder sich aus uralten Praktiken entwickelte. Spitzbergen im Norden ist eine subpolare Inselgruppe, die zu Norwegen, einem Nato-Mitgliedsstaat, gehört, seit vielen Jahren aber eine Siedlung beherbergt, die unter russischer Verwaltung steht. Und was das Überleben uralter Strukturen angeht, so sind sie nirgendwo so vielfarbig wie auf den Britischen Inseln. Bei einem Besuch auf der Kanalinsel Alderney entdeckte ich einen Pub, der nach Queen Elizabeth II. benannt worden war. Unter dem Porträt der Königin stand zu lesen: Elizabeth II., Königin von England, Herzog der Normandie. Ja, Herzog der Normandie, nicht Herzogin, denn die Kanalinseln sind ein Überbleibsel des alten Herzogtums Normandie, in dem salisches Recht herrschte, das Frauen von der Thronfolge ausschloss. Doch der wohl merkwürdigste Status einer Insel findet sich außerhalb der Grenzen Europas: Mitten im Atlantik liegt Ascension Island, die wie so viele abgelegene Inseln zu Großbritannien gehört. Da sie zum Zeitpunkt der britischen Inbesitznahme unbewohnt war, aber auch nicht besiedelt wurde, gab ihr die britische Regierung den Status eines Kriegsschiffs. Sie hieß also von da an „HMS Ascension“, bis sie 1922 St. Helena zugeschlagen wurde.

Der französische Philosoph Montesquieu ahnte den Hang von Inselbewohnern zur Selbstherrschaft, als er in „Vom Geist der Gesetze“ schrieb: „Die Insulaner haben einen stärkeren Hang zur Freiheit als die Bewohner des festen Landes. Die Inseln sind gewöhnlich von keinem großen Umfang […], die Tyrannei findet hier keine Unterstützung. Den Eroberern steht das Meer im Weg; die Insulaner werden nicht mit in die Eroberung begriffen und können mit leichterer Mühe ihre Gesetze behaupten.“ Dieser „Hang zur Freiheit“ war es wohl auch, der König Utopos einen Kanal durch den schmalen Isthmus graben ließ, der sein Königreich mit dem Festland verband. Fast scheint es, als müsse eine ideale Gesellschaft physisch vom Rest der Welt getrennt sein, um bestehen zu können. Kann es Zufall sein, dass fast alle Utopien, die seit Thomas Morus erfunden wurden, auf Inseln liegen? Vielleicht ist es gerade diese Verbindung von Inseldasein mit einem Ort, an dem man glücklich sein kann und wie Robinson Crusoe „weg ist von alldem“, die das Marketing der Urlaubsinseln befeuert mit ihren auf ewig sorglosen Inselbewohnern, die nur zu gern die Touristen aus reichen Ländern bedienen.
Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Torberg

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mare No. 147

mare No. 147August / September 2021

Von H. E. Chehabi

Houchang Esfandiar Chehabi, geboren 1954 in Teheran, wuchs dort und in Köln auf, studierte zuerst in Frankreich und dann in den USA, wo er 1986 an der Yale University promovierte. Seit 1998 ist er Professor an der Boston University. Sein Hauptforschungsthema ist iranische ­Geschichte. Da diese nicht immer erbaulich ist, befasst er sich zur Abwechslung mit kleinen ­Inseln, die er oft und gern besucht. Seine Lieblingsinseln sind Rügen und Anholt.

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Vita Houchang Esfandiar Chehabi, geboren 1954 in Teheran, wuchs dort und in Köln auf, studierte zuerst in Frankreich und dann in den USA, wo er 1986 an der Yale University promovierte. Seit 1998 ist er Professor an der Boston University. Sein Hauptforschungsthema ist iranische ­Geschichte. Da diese nicht immer erbaulich ist, befasst er sich zur Abwechslung mit kleinen ­Inseln, die er oft und gern besucht. Seine Lieblingsinseln sind Rügen und Anholt.
Person Von H. E. Chehabi
Vita Houchang Esfandiar Chehabi, geboren 1954 in Teheran, wuchs dort und in Köln auf, studierte zuerst in Frankreich und dann in den USA, wo er 1986 an der Yale University promovierte. Seit 1998 ist er Professor an der Boston University. Sein Hauptforschungsthema ist iranische ­Geschichte. Da diese nicht immer erbaulich ist, befasst er sich zur Abwechslung mit kleinen ­Inseln, die er oft und gern besucht. Seine Lieblingsinseln sind Rügen und Anholt.
Person Von H. E. Chehabi