Vinländisches Intermezzo

Leif Erikson kam bis Neufundland. Heute sind in L’Anse aux Meadows vor allem verkleidete Wikinger zu sehen. Sie machen Feuer, bauen Hütten, und manch einer fährt Motorrad

Auszug aus dem Buch „Hundert Tage Amerika“

Weiss ist die Farbe der Stunde. Gleissend weiß ist das nordische Licht, geweißt sind die Häuser aus Holz, weiß sind die Möwen, die dem Ort einen eigenen Sound geben, einen Sound, der nur nachts für wenige Stunden verstummt, bevor er frühmorgens wieder anschwillt und den Tag über die karge Heidelandschaft beherrscht. Wie weiß muss es erst im Winter sein? Die Vogelbrutinsel nördlich von L’Anse aux Meadows ist nicht groß, aus der Ferne nur als flache Erhebung zu erkennen, Abertausende Möwen am Boden und in der Luft, schreiend. Weiter hinten ragt aus dem Wasser ein mächtiges Felsplateau, steile Klippen, eine Grasschicht obenauf. Der Nebel umzingelt diese gewaltige Skulptur, lässt sie ganz verschwinden im milchigdunstigen Licht, bevor er sich verzieht und dieser Brocken wieder majestätisch zutage tritt wie schon Jahrtausende zuvor. Diese Inseln sind die letzten Ausläufer der Appalachen, die Gebirgskette zieht sich bis tief in den Süden der USA. Hinter ihnen dann nur noch das Meer und ganz weit in der Ferne, bei klarem Wetter zu erkennen: die Küste von Labrador. Der Highway führt schnurgerade zum Ozean hinab, zu beiden Seiten mit Blumen durchsprenkelte Wiesen, unten eine Wendemöglichkeit nach links, eine Wendemöglichkeit nach rechts, ein Restaurant mit hölzerner Terrasse, ein Dutzend Häuser, vor denen gelegentlich zwei, drei schweigsame Alte sitzen, Wäscheleinen zwischen die Häuser gespannt, bunte Stoffe flattern im Wind, mehr ist da nicht. Land’s End.

Das war es also. Hier lebten sie also. Ein Fischerdorf am Rand der Welt ist der eigentliche Anfangspunkt meiner Reise, Anfangspunkt nicht nur aus geografischem, sondern auch aus historischem Grund, es ist (vermutlich) der Ort, an dem Europäer zum ersten Mal auf amerikanischem Boden siedelten und dabei auf Menschen stießen, deren Urahnen sich vor 50 000 Jahren von Afrika aus über Asien auf einen anderen Weg gemacht hatten als jene, die Richtung Europa zogen, der Punkt also, an dem sich zwei Menschheitslinien nach jahrtausendelanger Entwicklung wieder begegneten, eine Begegnung, die nicht friedlich verlief, sondern mit einem Akt der Gewalt. L’Anse aux Meadows ist 1961 zu Berühmtheit gelangt, als ein 60jähriger Anwalt, Hobbyarchäologe und Abenteurer aus Norwegen die Spuren einer Wikingersiedlung entdeckte, die die Einheimischen fälschlicherweise als überwuchertes Indianercamp aus früheren Zeiten gedeutet hatten, von den Kindern seit Generationen als Spielgrund genutzt. Zu Helge Ingstads Quellen gehörten die Grönlandsaga und die Saga von Erik dem Roten, im späten Mittelalter von Mönchen niedergeschrieben; jahrhundertelang hatte man sich die Geschichten der rauen Nordmänner nur erzählt. Der umtriebige Norweger hatte die Sagen sorgfältig studiert, genauso wie seine Frau, die Archäologieprofessorin Anne Stine Ingstad.

Es war Leif Eriksson gewesen, der Sohn des berüchtigten rothaarigen Erik, der sich um das Jahr 1000 herum mit 35 Männern von Grönland aus quer über den Nordatlantik auf den Weg nach Westen machte, um Land zu erforschen, von dem er schon wusste von einem anderen Seefahrer, der sich kurz zuvor über den Atlantik gewagt hatte. Wie lange Leif und seine Männer blieben, wo überall sie an Land gingen und wie groß das legendär gewordene, in den Sagen als nahezu paradiesisch geschilderte Vinland genau war, all dies ist nicht gesichert. Vieles spricht dafür, dass die Siedlung in L’Anse aux Meadows nur eine Art Basisstation war, von der aus die Wikinger die Gegend erkundeten, wahrscheinlich gelangten sie bis aufs Festland. Der Fund wilder Trauben spricht für diese Theorie, im heutigen New Brunswick drüben machte ein derartiges Klima und Vegetation dies möglich; Leif Eriksson soll Rebstöcke und Trauben in großen Mengen nach Grönland zurückgebracht haben, Vinland bedeutet Weinland nicht ohne Grund. Die Artefakte, die das Ehepaar Ingstad und sein Grabungsteam entdeckten, beschränken sich auf wenige Gegenstände, eine rostige Nadel, ein paar bearbeitete Hölzer, ein bisschen Metall. Doch es ließen sich die Grundrisse von sieben Hütten ausmachen und der einer Schmiede noch dazu, die Spuren sind im Boden zu erkennen, sie sind der eigentliche Kern der Stätte, nicht spektakulär für die Besucher, doch historisch bedeutungsvoll; es ist nicht alles ausgegraben, womöglich liegt noch mehr tief unten im Moor, für spätere Zeiten und zukünftige Forscher auf natürliche Weise konserviert. 1978 erklärte die Unesco die Fundstelle zum Weltkulturerbe, das Ehepaar Ingstad erfuhr große Ehre und genoss ein langes Leben.

Wie Leif Erikssons eigenes Leben nach seiner Rückkehr nach Grönland verlief, ist nicht bekannt. Was man aber weiß: Sein Bruder Thorwald startete eine weitere Expedition, die sowohl für ihn als auch für mindestens acht andere Menschen tödlich verlaufen sollte; die erste Konfrontation zwischen Ureinwohnern und europäischen Eindringlingen – der Beginn einer unseligen Geschichte. Wenn heute einer hier erzählt, er sei ein Viking, dann meint er damit, er stamme von Skandinaviern ab. Die Wikinger selber haben keine Nachfahren hinterlassen, blieben nicht sehr lange, vielleicht drei, vielleicht zehn Jahre, Enthusiasten sprechen von 26 Jahren, was aber mehr Wunschdenken denn Realität zu sein scheint. Grund für den Rückzug waren wahrscheinlich die Ureinwohner, auf die Thorwalds Leute trafen, vielleicht im Süden Neufundlands oder auch auf dem Festland drüben, von den Nordmännern herablassend Skraelinger genannt, was man mit „Schwächlinge“ übersetzen könnte. Thorwald schlachtete acht Männer, die er in ihren Booten schlafend angetroffen hatte, kurzerhand ab, wurde aber selber von einem Giftpfeil getroffen, der ihn das Leben kosten sollte. Das war der Anfang. Auch die dritte und die vierte Reise nach Vinland, die erst ein Bruder und später eine Schwester von Leif und Thorwald unternommen hatten, endeten blutig. Sie alle bewohnten mit großer Wahrscheinlichkeit das Lager in L’Anse aux Meadows, bauten es aus, zogen von hier aus los, die Herrscher der Region zu werden, wollten wohl für immer bleiben, sich niederlassen, auch Frauen waren dabei, eine Spinnwindel deutet darauf hin. Sogar die Geburt eines Jungen ist bekannt, Snorri hieß der erste Europäer, der auf amerikanischem Boden je geboren wurde. Doch die Situation wurde zu schwierig für die aus Grönland Zugereisten, die Ureinwohner ließen sich nicht einfach verdrängen, bekämpften die Eindringlinge vehement. Die Archäologen gehen von einem geordneten Rückzug der Fremden aus, daher die wenigen Fundstücke. Man nahm mit, was mitzunehmen wert war, und überließ den Platz der Natur, dem Wind, dem Meer, den Vögeln, die auch heute lautstark ihre Präsenz demonstrieren.

Manchmal wird das Möwengeschrei von Motorenlärm übertönt. Dann fährt ein Wikinger auf einer Harley Davidson vorbei, langer Bart unter schwarzem Helm, grob gewobene Stoffe flattern im Wind; ein Wikinger auf dem Weg zur Arbeit. Man findet sie während der Sommermonate vermehrt in L’Anse aux Meadows, in der archäologischen Ausgrabungsstätte oder auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Wikingermuseumsdorf Norstead. Dort entfachen sie Feuer, füttern Ziegen, reparieren Boote, sitzen in düsteren Langhäusern aus Holz, Torf und Gras, hämmern, kochen und reden, erzählen Sagen und Mythen, ganz so, als ob es immer noch das Jahr 997 oder 1001 wäre, die Geschlechterrollen klar verteilt, ein Kind ist mit dabei. Frühmorgens klettern sie in ihren Kostümen aus hochrädrigen Autos, am späten Nachmittag steigen sie wieder hinein, raffen die dicken Stoffe zusammen, putzen den Ruß von der Stirn, kämmen sich die Haare, gehen für die Nacht nach Hause, sind moderne Menschen mit Nagelscheren, elektrischen Heizkissen, Satellitenradios und Insektenvertilgungsmitteln. Wenn sie weg sind nach Feierabend, ist hier keiner mehr, auch kein Tourist.


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mare No. 88

No. 88Oktober / November 2011

Von Zora del Buono

mare-Kulturredakteurin Zora del Buono, Jahrgang 1962, schreibt auch Bücher. Nach zwei Romanen erschien soeben im mareverlag ihr literarisches Reisebuch Hundert Tage Amerika – Begegnungen zwischen Neufundland und Key West.

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Vita mare-Kulturredakteurin Zora del Buono, Jahrgang 1962, schreibt auch Bücher. Nach zwei Romanen erschien soeben im mareverlag ihr literarisches Reisebuch Hundert Tage Amerika – Begegnungen zwischen Neufundland und Key West.
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Vita mare-Kulturredakteurin Zora del Buono, Jahrgang 1962, schreibt auch Bücher. Nach zwei Romanen erschien soeben im mareverlag ihr literarisches Reisebuch Hundert Tage Amerika – Begegnungen zwischen Neufundland und Key West.
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