Viagra für Wikinger

Nordmannen sind durch nichts zu schrecken – und es verlangt auch eine gewisse Todesverachtung, wenn man ihre liebste Weih­nachtsspeise kosten will – Stockfisch in Ätznatron

Norweger schrecken ja vor nichts zurück. Als Wikinger ruderten sie über den Atlantik, als moderne Draufgänger saugen sie Öl aus rasender See. Und sie essen Lutefisk.

Lutefisk ist Kabeljau, dem übel mitgespielt wird – „Laugenfisch“, der Name sagt es. Einige Monate hing er bereits an Nordlands Klippen, nun wird der Gammelfisch in Ätznatron gemartert. Ätznatron ist auch Bestandteil von Rohrreinigern, der Koch holt es aus der Apotheke, im Sicherheitstank. Man soll nicht zu viel davon nehmen, da sich sonst der Fisch zersetzt. Allerdings, was letztlich auf dem Teller liegt, ist eh ein demoliertes Tier. Man mag an Qualle denken, würde man sie damit nicht verleumden. Denn jene ist eine Meduse, dies hier ist Glibber. Darum wird der Gaumen am Ende mit Speck, Pfeffer und Senf übertölpelt. Und mit sehr viel Aquavit.

Die Zutaten zum Lutefisk verkaufen winters alle einschlägigen Geschäfte Skandinaviens – außer dänische. Die Dänen kennen das Gericht gar nicht, sie sind just als glücklichstes Volk der Welt ermittelt worden. In Norwegen aber steht Lutefisk zu Weihnachten auf jedem Tisch. Jedermann dort lobt ihn überschwänglich. Zumindest bis die erste Flasche Aquavit geleert ist. Danach wirkt Schillers Gesetz („Der Wein erfindet nichts, er schwatzt’s nur aus“), und die Wahrheit kommt ans Licht. „Er schmeckt wie Schlange“ ist noch das mildeste Urteil. Andere berichten von Kindheitsqualen, die sie aus der elterlichen Wohnung trieben. Nur stabile Naturen hält es drinnen, wenn das Essen bereitet wird. Ein höllischer Mief ist dort, der klarmacht: Dieser Fisch ist beeindruckend tot.

Solcherart erzählt man sich im Land der Fjorde: Einst schlug den Zöllnern eines Flughafens „Verwesungsgeruch“ entgegen. Er kam aus einem Koffer, darin ein Packen Stockfisch für eine New Yorker Lutefisk-Feier. Noch auf dem Airport wurde die Bagage vernichtet, seither reist der anrüchige Fisch meist in Diplomatengepäck.

Denn die Norweger brauchen ihr Teufelszeug, wo immer sie sind. Vor allem eben zu Weihnachten, dann versammeln sie sich an den unglücklichen Stätten ihres Siedlungsdrangs. Es ist die Zeit, da Lokalblätter über arge Dünste nahe gewissen Restaurants klagen. In New York plante man darauf das Verbot der Speise. Die Nachfahren der Wikinger, sie verwüsten auch heute noch ganze Landstriche – wenn auch nur vorübergehend, wenn auch nur mit Gestank.

So wie alljährlich in Berlin. Das Lokal wechselt, verständlicherweise, die Gäste sind meist dieselben – in Deutschland ansässige Norweger. Für die Öffentlichkeit ist es die „Königliche Lutefisk-Gesellschaft“. Tatsächlich handelt es sich um einen Orden, der Ritter kennt und seltsame Rituale und sicher bald von Dan Brown entlarvt wird.

Großmeister ist Jahn Otto Johansen, ein ehemaliger Fernsehkorrespondent. Der sechsfache Vater preist Lutefisk als „norwegisches Viagra“, er forscht zugleich an dessen Geschichte. Sein neuester Fund: „In einem Kochbuch von 1553 wird dem Bischof von Konstanz beschrieben, wie man aus Stockfisch Lutefisk macht.“ Wahrscheinlich, sagt Johansen grinsend, stammt das Gericht aus Deutschland.

Darum wohl glaubt man sich in Berlin unbehelligt. Aus aller Welt fliegen die Nordmänner ein für die jährlichen Lutefisk-Treffen. Die kulinarischen Grenzgänger können so unerreichbar verschwinden, falls doch die Lebensmittelaufsicht kommt. Vorausgesetzt, man erwacht rechtzeitig aus dem unvermeidlichen Rausch. Am besten übrigens, man trinkt die ersten Aquavits noch vor dem Essen. Wann, so heißt es, ist man bereit zum Lutefisk? Falsche Antwort: Wenn man mit geschlossenen Augen einen Schokoriegel nicht mehr von einem Kaviarcracker unterscheiden kann. Richtige Antwort: Wenn es auch mit offenen Augen nicht mehr gelingt.

Der Koch ist ebenfalls stets der gleiche, Kenneth Gjerrud. Den Fisch bietet er zu Weihnachten auch in seinem Berliner Restaurant an. Sein Lokal nennt sich „Munch’s Hus“, nach einem echten Exportartikel Norwegens. Edvard Munch wurde berühmt als Maler schreiender Menschen. „Nö, das hat gar nichts mit Lutefisk zu tun“, behauptet der Journalist Asbjörn Svarstad, Initiator der Berliner Treffen, „der Fisch ist lecker.“

Das war noch vor dem ersten Schluck, am Ende offenbart auch er sich. „Weißt du, es geht doch nur ums Zusammensein, um den Schnaps und um fiese Lieder.“ Und was ist mit dem Geschmack des Fisches? „Geschmack?“, fragt er verwundert.


Norwegischer Lutefisk

Zutaten (für vier Personen)

3 kg Stockfisch, 800 g Kartoffeln, 500 g pürierte Erbsen, 250 g Speckwürfel.

Zubereitung

Stockfisch sechs Tage kalt wässern, dann zwei Tage in Ätznatron legen (2 bis 3 Gramm je Liter). Danach spülen! Fisch aufs Bratblech legen, mit Alufolie bedecken und bei 200 Grad 45 Minuten garen. Mit gebratenem Speck, Salzkartoffeln, Erbsenpüree und Senf servieren.


Munch’s Hus
Bülowstraße 66
Berlin-Schöneberg
Tel. +49 (0)30 21 01 40 86
www.munchshus.de
Täglich 10 bis 1 Uhr

mare No. 59

No. 59Dezember 2006 / Januar 2007

Eine Kombüse von Maik Brandenburg und Russell Liebman

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

Russell Liebman, 1966 in New York geboren, lebt in Berlin. Für mare fotografierte er u. a. die Steinfischer von Brasilien (in No. 8) und den Tunfisch-Fang vor Barbate, Spanien (in No. 61).

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Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

Russell Liebman, 1966 in New York geboren, lebt in Berlin. Für mare fotografierte er u. a. die Steinfischer von Brasilien (in No. 8) und den Tunfisch-Fang vor Barbate, Spanien (in No. 61).
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Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

Russell Liebman, 1966 in New York geboren, lebt in Berlin. Für mare fotografierte er u. a. die Steinfischer von Brasilien (in No. 8) und den Tunfisch-Fang vor Barbate, Spanien (in No. 61).
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