Verwegen segeln im Geldmeer

Wie einst der Pirat, Urvater des Kapitalismus, bewegt sich heute der Finanzmanager im Internet außerhalb von Sitte und Brauch

Die Welt, so scheint es, stürzt in eine maritime Existenz und folgt immer mehr nur einer Logik: der Logik des Meeres, das ewig fließt und strömt, keinen Charakter hat und keine Grenzen kennt außer der irdischen Schwerkraft.

Seit dem 16. und 17. Jahrhundert feiert sie ihren Aufstieg. Zu dieser Zeit, als die Seemächte Spanien und England politisch und konfessionell in blutiger Fehde lagen, durchpflügten sagenhafte Freibeuter wie Francis Drake, Henry Morgan oder Walter Raleigh die Ozeane und jagten straflos spanische Galeonen, die mit Gold und Silber gefüllten Schiffe der Konquistadoren, die von den südamerikanischen Kolonien zurück nach Europa segelten.

Ermächtigt hatte sie dazu der Kaperbrief der englischen Königin. Mit ihr teilte man sich auch die Beute – denn was an Land als gesetzwidrig galt, war auf hoher See außerhalb jeder Norm: Recht war Recht am rechten Ort. Das offene Meer aber ist frei, ist weder Territorium noch Staatsgebiet. Es gibt dort nur die Gegenwart des tiefen Blaus, das keine Vergangenheit kennt, außer den flüchtigen Spuren der Schiffe, die schnell die Wellen vergessen machen. So gab es für die englischen Piraten weder Gesetz noch Eigentum, aber immer die Hoffnung auf schnellen Gewinn.

Im 16. und 17. Jahrhundert trat somit erstmals ein neuer Typus in die Wirtschaftswelt: der Merchant Adventurer, der Abenteurerkaufmann, halb Soldat, halb Zivilist, doch auch halb Dieb, halb Unternehmer. Ein Mann, in dem sich verwegene Fantasie mit Tatkraft paarte, voller Romantik und doch mit hellem Blick für die Wirklichkeit, voll starkem Sinn für Pracht und doch imstande, eine Seefahrt ins Ungewisse auf sich zu nehmen, getreu der Herkunft des Wortes „Pirat“: Peirân ist griechisch und bedeutet „wagen“. Nichts mehr schien in ihm an den Florentiner Kaufmann zu erinnern, der Gefahr und Risiko mied, der weite Wege quer durch verschiedene Länder wählte und sich lieber mit Fremden und ihren Traditionen arrangierte, statt auf dem Meer, dem fließenden Etwas ohne Recht und Gesetz, Unwägbarkeiten zu erleiden.

Und der Merchant Adventurer hatte Erfolg: 1588 besiegte die englische Flotte Spaniens Armada. England wurde die neue Seemacht – und es verlegte seine Existenz gedanklich auf das Meer. Die Engländer, die bis dahin über Jahrhunderte Schafe züchteten, fingen an, die Welt zunehmend vom Meer aus zu betrachten und sich als ein Volk von Seefahrern zu begreifen. Hierdurch expandierten Handel und Industrie, begann der Aufstieg des Bürgertums zur herrschenden Schicht, geriet in England jene geistige Strömung auf den Plan, die man später Aufklärung nennen sollte.

Schon bei Thomas Morus kündigte sich dies an, als er 1516 seiner berühmtesten Schrift den Titel gab. Utopia war eine gänzlich neue Wortschöpfung. Aus dem griechischen où tópos („kein Ort“) entlehnt, bezeichnete sie das Nirgendwo des Fließenden, den Nichtort des Meeres. Aber genauso war dieses Wort Synonym für eine zukünftige ideale Welt, in der ein jeder frei und gleich sein sollte. Und so entstand aus dem Geist des Ozeans auch eine neue Idee individueller Freiheit. Der englische Philosoph John Locke fasste sie in die Worte: „Der Mensch befindet sich in einem Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes“, schrieb er in seinem Second Treatise of Government, der kapitalistischen Gründungscharta von 1690.

Doch diese Grenzen waren bestimmt durch das, was zu seiner Zeit als vernünftig galt. Die neue Freiheit war die des Merchant Adventurer, der, herausgelöst aus allen sozialen Bindungen, verwegen über die Meere segelt. Diese Freiheit verhieß frei zu sein „von“ allem Althergebrachten, war abstrakt, verneinend, negativ: Sie untergrub die Tradition, nach der Eigentum und Arbeit soziale Pflichten mit sich bringen, sie erledigte endgültig das mittelalterliche Zinsverbot, sie setzte das fließende Geld dem festen Boden gleich und legitimierte es von nun an als Ware. Diese Freiheit war eine andere als die, die man auf dem Festland kannte: eine an den Ort gebundene, die Gewachsenes respektierte, eine konkrete, bejahende, positive – eine Freiheit „zu“ etwas.


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mare No. 84

No. 84Februar / März 2011

Von Michael Böhm

Michael Böhm, geboren 1969 in Dresden, studierte Politikwissenschaften in Berlin und im französischen Lille und lebt heute als freier Publizist in Berlin. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften und den Rundfunk im deutschsprachigen Raum, unter anderem für die Magazine Du und Datum – Seiten der Zeit sowie für Deutschlandradio Kultur. 2008 erschien sein Buch Alain de Benoist und die Nouvelle Droite.

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Vita Michael Böhm, geboren 1969 in Dresden, studierte Politikwissenschaften in Berlin und im französischen Lille und lebt heute als freier Publizist in Berlin. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften und den Rundfunk im deutschsprachigen Raum, unter anderem für die Magazine Du und Datum – Seiten der Zeit sowie für Deutschlandradio Kultur. 2008 erschien sein Buch Alain de Benoist und die Nouvelle Droite.
Person Von Michael Böhm
Vita Michael Böhm, geboren 1969 in Dresden, studierte Politikwissenschaften in Berlin und im französischen Lille und lebt heute als freier Publizist in Berlin. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften und den Rundfunk im deutschsprachigen Raum, unter anderem für die Magazine Du und Datum – Seiten der Zeit sowie für Deutschlandradio Kultur. 2008 erschien sein Buch Alain de Benoist und die Nouvelle Droite.
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