Verborgenes Leben im Eis

Mikroorganismen im Inneren des Eises spielen eine zentrale Rolle im polaren Ökosystem

Nichts prägt mehr das Erscheinungsbild der Polarmeere als die endlosen Weiten des Packeises. Etwa 14 Millionen Quadratkilometer Eis in der Arktis und 20 Millionen Quadratkilometer in der Antarktis bedecken die Meeresoberfläche zur jeweils kältesten Jahreszeit der beiden Pole – insgesamt zwölf Prozent der Gesamtfläche aller Ozeane, größer als Europa und Nordamerika zusammengenommen. Als Rastplatz verschiedenster Seevögel, Revier von Eisbären und Polarfüchsen oder als Kinderstube riesiger Pinguin-Kolonien sind uns die Eisflächen bestens bekannt. Doch verborgen im Inneren des Eises entspinnt sich ein Leben, daß das gesamte polare Nahrungsnetz beeinflußt.

Schon 1841 berichtete der deutsche Naturforscher Christian Gottfried Ehrenberg (1795–1876) von einer solch dichten Besiedlung des arktischen Meereises mit pflanzlichen Organismen, den Kieselalgen, daß dieses braun gefärbt sein kann. Ein Jahr später fanden britische Wissenschaftler ähnliche Ergebnisse im Südpolarmeer. „Bis Anfang der 60er Jahre unseres Jahrhunderts wurden die in einem derart unwirtlichen Habitat lebenden Organismen aber eher als Kuriosität betrachtet“, weiß Polarbiologe Michael Spindler von der Universität Kiel zu berichten. Erst in den letzten 30 Jahren begann man, die Vielfalt der Mikroorganismen im Eis und ihre Bedeutung in der Nahrungskette zu erforschen.

Ermöglicht wird das Leben im Meereis durch den Salzgehalt des Wassers. Er verschiebt den Gefrierpunkt auf –1,8 Grad Celsius. Bei dieser Temperatur entstehen die ersten kleinen Eiskristalle, in die nur reines Wasser eingebunden wird; die Salze bleiben im umgebenden Medium zurück. Dadurch entsteht zwischen den Eiskristallen eine Salzlake, die auch beim weiteren Gefrieren des Eises flüssig bleibt und ein schwammartiges, vernetztes Labyrinth von Kanälen und Höhlen im Inneren des Eises bildet – den Lebensraum der Eisorganismen. Der Durchmesser dieser Kanäle liegt meist bei zwei Zehnteln eines Millimeters, doch vor allem in den unteren Schichten des Eises können sie sogar zentimeterbreit werden. Bis zu einem Drittel des gesamten Eisvolumens können die Kanäle ausmachen.

Die häufigsten Bewohner dieses Eislabyrinths sind die schon von Ehrenberg beobachteten Kieselalgen – sowohl was die Menge als auch die Vielfalt der Arten angeht. Mehrere hundert Millionen Zellen dieser Algen können auf einen Liter geschmolzenes Meereis kommen. Mehr als 550 Arten sind inzwischen aus polarem Eis beschrieben. „Viele dieser Arten leben sogar ausschließlich darin und waren vor der Erforschung dieses ungewöhnlichen Lebensraums unbekannt“, weiß Spindler. Daneben finden sich auch andere mikroskopische Algengruppen, niedere Pilze und Bakterien. Sie alle bieten tierischen Konsumenten einen reich gedeckten Tisch: Vor allem Einzeller, aber auch kleine wirbellose Tiere wie Strudel-, Fadenwürmer, Rädertierchen, Krebse und sogar mehrere Millimeter große Nacktschnecken gehören zu den Meereis-Gemeinschaften, die von den Eisalgen leben.

Besonders in den untersten Zentimetern des Eises und im Übergang vom Eis zum aufliegenden Schnee findet sich eine besonders dichte Besiedlung, die als braune Streifen sichtbar wird. Aber auch die Unterseite des Eises kann massiv bewachsen werden, beispielsweise durch kettenförmige Kieselalgen. Diese Arten können bis zu zwei Meter breite und 15 Meter lange, braungrüne Bänder bilden, die von der Eisscholle ins Wasser hängen.

Die Häufigkeit vieler Organismen, etwa der Kieselalgen, ist im Eis teilweise hundert- bis tausendfach höher als im vergleichbaren Volumen Wasser. „Im antarktischen Winter ist die Menge der Eisalgen höher als die aller Algen in der gesamten darunter befindlichen Wassersäule von der Oberfläche bis zum Meeresboden“, weiß Rolf Gradinger, ebenfalls Eisbiologe an der Universität Kiel, zu berichten. Wie die Organismen im Eis konzentriert werden, ist unter den Wissenschaftlern allerdings noch umstritten. „Zwar bestehen mehrere Hypothesen darüber. Eine Verifizierung fehlt jedoch noch in den meisten Fällen“, erklärt Spindler.

Zum einen sollen die Algen bei der Eisbildung von den Eiskristallen quasi aus der Wassersäule „herausgekehrt“ werden: Die sich anfänglich bildenden Süßwasserkristalle steigen wegen ihrer geringeren Dichte im Wasser auf und sammeln – ähnlich einem Regen, der den Staub aus der Luft wäscht, – die einzelligen Organismen ein. Frieren die Kristalle dann zusammen, werden die Organismen eingeschlossen. Zum anderen können die Organismen auch selber als Kristallisationskeime für feine Eispartikel dienen, in denen sie bei fortschreitendem Gefrieren eingelagert werden. „Die hohe Zahl von Organismen im Eisbrei, einem frühen Stadium der Eisentwicklung, scheint beide Annahmen zumindest zum Teil zu rechtfertigen“, so Spindler.

Doch auch der direkte Eintrag von Organismen in bestehendes Meereis wird diskutiert: Mit jedem Wellenberg wird Meerwasser von unten in das Kanalsystem des Eises gedrückt – mit ihm die darin enthaltenen Lebewesen, die sich in dem Gewirr der Eiskristalle verfangen oder an den Oberflächen festheften und nicht mit dem Wellental wieder aus dem Eislabyrinth herausgesogen werden.


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mare No. 6

No. 6Februar / März 1998

Von Frank J. Jochem

Frank J. Jochem, Jahrgang 1961, ist promovierter Meeresbiologe und untersuchte Algenproduktion und Nahrungsnetze in der Ostsee, dem Atlantischen und Indischen Ozean und der Antarktis. Seit April 1997 ist er Autor und Wissenschaftsredakteur der Zeitschrift mare.

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Vita Frank J. Jochem, Jahrgang 1961, ist promovierter Meeresbiologe und untersuchte Algenproduktion und Nahrungsnetze in der Ostsee, dem Atlantischen und Indischen Ozean und der Antarktis. Seit April 1997 ist er Autor und Wissenschaftsredakteur der Zeitschrift mare.
Person Von Frank J. Jochem
Vita Frank J. Jochem, Jahrgang 1961, ist promovierter Meeresbiologe und untersuchte Algenproduktion und Nahrungsnetze in der Ostsee, dem Atlantischen und Indischen Ozean und der Antarktis. Seit April 1997 ist er Autor und Wissenschaftsredakteur der Zeitschrift mare.
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