USA: Westküste

Am Pazifik richten sich die Menschen eher provisorisch ein. In der Tradition der Pioniere: Immer bereit zum Aufbruch!

Die Menschen an der Küste Kaliforniens sagen von sich selbst, dass sie viel Platz brauchen zum Leben. Deshalb richten sie sich eher in bescheidenen Häusern ein. Große Villen verschwenden bloß den Raum, den die Natur geschaffen hat. Die schönste Decke über dem Kopf ist noch immer der Himmel

Die Mär vom glücklichen Hans geht so: Hans ist Restaurantbesitzer und Inhaber einer Zapfsäule mitten im Paradies. Eines Tages stellt er sich vor die Tür und beschließt, alle Autos zu zählen, die vorbeikommen. Und er zählt sieben in 24 Stunden. Hans kann sein Glück nicht fassen, er vergrößert.

Ein wahres Märchen. Hans Ewoldsen hieß der Gewitzte, und gezählt hat er - Sommer 1943 - vor dem River Inn, einem der ersten Restaurants in Big Sur, dem Paradies. Zwei Generationen nach Hans stelle ich mich vor seine Tür und zähle an einem Sommer-Wochenende die dicken Daddies und dicken Moms in ihren dicken Autos, alle. Und bei Hans waren es sieben in 24 Stunden und bei mir sind es 24 in sieben Sekunden. O.K., übertrieben, aber wenig, verdammt wenig übertrieben.

Als Männer noch mutig und beneidenswert aussahen, noch nach einem intensiven Leben und intensiven Gefühlen hungerten, wanderten sie hierher. Auf einem kurvigen, abschüssigen Pfad. Die ersten kamen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Kamen auf Eseln und Pferden. Und jagten Grizzlys und Wale. Legten sich an mit jenem Erdteil, den seine weißen Entdecker, die Spanier, „El Sur Grande", den Großen Süden, nannten. Jenem auf die Erde gefallenen Zauber, südlich von San Francisco, nördlich von Los Angeles, keine 60 Meilen lang und immer bedroht, immer verwöhnt vom Pazifik. Eben jenem Meer, über dem Henry Miller in seinem Big-Sur-Haus schwebte und über das er ergriffen „the look of always" flüsterte. So grandios und ewig lag es vor ihm.

Mit Hilfe emsiger Chinesen und träger Zuchthäusler wurde aus dem Trampelpfad der Highway One. 18 Jahre Maloche und Hunderte von der Brandung verschlungene Leiber waren der Preis. Verantwortlich für das 1937 eröffnete Kurvenwunder mit den 29 Brücken waren nicht Verkehrsminister, sondern fürsorgliche Generäle. Wie immer auf der Hut vor dem Weltkommunismus, entdeckten sie an der Westküste eine offene Flanke. Die fertige Straße beruhigte sie, Panzer und Infanterie konnten nun zügig gegen jeden an Land kletternden Bolschewiken in Stellung gebracht werden.

Der Kommunismus hat es nie hierher geschafft, andere Desaster schafften es. Auf der Bixby Creek Bridge, einer der ersten Augenblender auf dem Weg von Nord nach Süd, treffe ich David, den Kranführer. Die Brückenstreben werden seit drei Jahren „erdbebensicher" betoniert, Kosten: zehn Millionen Dollar. David kennt sich aus, Fluten, Tornados, ja Winterstürme rasen vorbei. Noch heute stehen siebenstellige Schulden aus, die der Steuerzahler für die Verwüstungen von El Niño abtragen muss. „Amen", murmelte Miller bisweilen. Das himmlische Wort sollte den teuflisch launischen Pazifik besänftigen.

Inoffiziell beginnt bei der „Bixby" - sie hieß einmal „Regenbogen-Brücke" - Big Sur. Und wie Odysseus beim Vorübersegeln an der Insel der Sirenen seine Gefährten an die Schiffsmasten kettete, damit sie den Verstand nicht verlören beim Hören der zauberischen Klänge, so sollte jeder Fremde sich wappnen gegen die Zumutungen irdischer Schönheit, denen er nun hilflos und drei-dimensional ausgesetzt wird: rechts das von einer seidenglitzernden Haut überzogene Meer um sieben Uhr morgens, links die blau leuchtenden Wälder und Felsen der Santa Lucia Range, weit oben der maßlose Himmel. Big Sur tut weh. Wie Männern der Blick auf eine atemberaubend schöne Frau wehtut. Weil sie von keinem Serum wissen, um sich vor so viel Übermacht zu schützen. Was bleibt - in beiden Fällen -, ist das Versprechen, als hemmungsloser Bewunderer anzutreten.

Ich trete die Flucht an, biege links ab auf die Old Coastal Road, die ein paar Kilometer parallel zum Highway verläuft, fern vom Wasser und behütet von den Schatten einsamer Bäume. Vom Weg aus sieht man ein paar versteckte Häuser. Zwei seltsame Dinge passieren. Ich frage nach einer Adresse, und ein zahnloser Mann ruft heiter „wait", hüpft zurück in seine Blockhütte und kommt nicht wieder. Beim zweiten Mal grient mich eine lederbraune Greisin an und zeigt in die exakt falsche Richtung. Die beiden - und fünf weitere werde ich in den nächsten Tagen treffen - stecken unter einer Decke. Der Decke jener, die nach Big Sur kamen. Und blieben. Plus/minus 1300, heißt es. Und die mit Eifersucht und pfiffigen Finten darüber wachen, dass jeder Fremde zur Hölle fahre und sich dort verirre.

Aber die falsche Richtung bringt Glück. Ich überhole einen jungen Kerl und bleibe stehen, schon im Rückspiegel fiel sein klares, konzentriertes Gesicht auf. Und mit klaren, konzentrierten Worten gibt Brian ein paar Daten aus seiner Biografie preis, erklärt, dass er auf dem Weg zum Tassajara Zen Retreat sei, einem hier in den Tälern versunkenen buddhistischen Kloster.

Brian verströmt die Ausstrahlung von Zeitgenossen, die seit Monaten auf einem harten Kissen sitzen, den Mund halten und meditieren. Acht Stunden lang, dann Gemüse jäten und Reisschalen spülen. Immer mit der einen, so einzigartig schweren Aufgabe beschäftigt, sich auf den jetzigen Augenblick zu konzentrieren. Nur wer am Rande wankt, tut sich das an. Brian wankte auf einen frühen Tod zu, dreimal pro Tag fädelte er die Heroinnadel ein.


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mare No. 26

No. 26Juni / Juli 2001

Von Andreas Altmann und Roy Tzidon

Andreas Altmann, Reporter und Autor, lebt in Paris. 1992 erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1999 schrieb er ein Buch über seine Amerika-Reisen: Im Land der Freien (Rowohlt Verlag). In diesem Jahr erschien im Picus Verlag in Wien sein Reisebericht: Im Herz ein Feuer. Unterwegs von Kairo in den Süden Afrikas. In mare No. 24 berichtete Altmann über die Akademie der US-Marine in Annapolis

Roy Tzidon, israelischer Künstler mit Wohnsitz in Brüssel, war zum ersten Mal für mare unterwegs. Seine Fotografien der Menschen in Big Sur widmet er seinem verstorbenen Freund, dem Jazz-Pianisten Tony Castellano (1935-1999): „In the memory of a true and inspiring friend"

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Vita Andreas Altmann, Reporter und Autor, lebt in Paris. 1992 erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1999 schrieb er ein Buch über seine Amerika-Reisen: Im Land der Freien (Rowohlt Verlag). In diesem Jahr erschien im Picus Verlag in Wien sein Reisebericht: Im Herz ein Feuer. Unterwegs von Kairo in den Süden Afrikas. In mare No. 24 berichtete Altmann über die Akademie der US-Marine in Annapolis

Roy Tzidon, israelischer Künstler mit Wohnsitz in Brüssel, war zum ersten Mal für mare unterwegs. Seine Fotografien der Menschen in Big Sur widmet er seinem verstorbenen Freund, dem Jazz-Pianisten Tony Castellano (1935-1999): „In the memory of a true and inspiring friend"
Person Von Andreas Altmann und Roy Tzidon
Vita Andreas Altmann, Reporter und Autor, lebt in Paris. 1992 erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1999 schrieb er ein Buch über seine Amerika-Reisen: Im Land der Freien (Rowohlt Verlag). In diesem Jahr erschien im Picus Verlag in Wien sein Reisebericht: Im Herz ein Feuer. Unterwegs von Kairo in den Süden Afrikas. In mare No. 24 berichtete Altmann über die Akademie der US-Marine in Annapolis

Roy Tzidon, israelischer Künstler mit Wohnsitz in Brüssel, war zum ersten Mal für mare unterwegs. Seine Fotografien der Menschen in Big Sur widmet er seinem verstorbenen Freund, dem Jazz-Pianisten Tony Castellano (1935-1999): „In the memory of a true and inspiring friend"
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