USA: Ostküste

Am Atlantik bauen die Amerikaner schicke Häuser und pflanzen hohe Hecken. Es gilt das britische Motto: My home is my castle

Am Atlantik schauen die Amerikaner auf die Alte Welt, und was sie sehen, das gefällt ihnen. In den Bundesstaaten nördlich von New York nennen sie ihre Heimat sogar Neuengland. Ihre Traditionen stammen aus Europa, und auch ihre Häuser samt Mobiliar scheinen direkt importiert zu sein. Die wohlhabenden Bewohner der Ostküste bauen grandiose Villen im englischen Landhausstil, die sie in vornehmer Zurückhaltung als „cottages" bezeichnen.

Der Weg zu diesen „Hütten" führt über schattige Alleen und durch großzügige, gut bewachte Parks. Denn die Neuengländer möchten zeigen, was sie haben, ohne dabei zu viel von sich selbst preiszugeben. Es ist nicht leicht, in diese Kreise vorzudringen. Tina Barney gehört dazu. Deshalb ist der Fotografin gelungen, was ihren Kollegen verwehrt bleibt - eine Innenansicht der feinen Gesellschaft von der Ostküste.

Das andere Ufer ist jung und wild. „Caliente Fornalla" tauften die spanischen Entdecker den Küstenstrich am Pazifik - heißer Ofen. Aber das extreme Klima schreckte die Pioniere nicht, der Goldrausch von 1848 lockte Hunderttausende in den Westen. Ein Gefühl von Aufbruch, der Blick zum Horizont - beides gehört noch heute zum Leben am Pazifik. Vielleicht treten Kalifornier deshalb bescheidener auf als Neuengländer. Sie pflanzen keine Hecken, sie bauen keine Burgen. Der Fotograf Roy Tzidon fand Leute, die ganz auf ein festes Dach über dem Kopf verzichten und mit provisorischen Behausungen vorlieb nehmen. Hauptsache, der Blick auf die Natur bleibt unverstellt.

Europäer reden vom „American way of life", als gäbe es zwischen Atlantik und Pazifik eine einheitliche Kultur. Weit gefehlt. Der Reporter Andreas Altmann ist auf den Spuren von Barney und Tzidon an die Ost- und Westküste gereist und berichtet von zwei Lebensentwürfen, die unterschiedlicher nicht sein können. In Neuengland fand er eine Gesellschaft, die sich nach dem Motto „My home is my castle" von der Außenwelt abschirmt. Auf der anderen Seite des Kontinents halten sich die Menschen an den Komponisten Cole Porter: „Don't fence me in" - bloß keine Zäune.


Martin Walser notierte einmal: „Amerika ist ein faszinierend romantisch-böses Land. Deutschland ist AOK." Dass unsere Republik so laue Abenteuer verspricht wie das Büro einer Krankenkasse, der Satz riecht nicht neu. Dass allerdings die USA romantisch und böse sein sollen, das ist ein starkes Stück.

Flug von Washington nach Boston, die Boeing 727 wackelt, und vergnügt blinkt das „Dow Phone" in der Rückenlehne des Vordermannes. Damit alle im Flugzeug den Dow Jones abfragen, ja gleich Aktien ordern oder abstoßen können - selbst in 10000 Meter Höhe. Jedenfalls tun, was alle Amerikaner tun, wenn sie faszinierend, romantisch und böse sind: von Schiffsladungen grüner Dollars träumen.

Ich träume von Watch Hill. Seit ich die Bilder der Fotografin Tina Barney gesehen habe, will ich wissen, wie man das Leben dort aushält. Der Ort liegt an der Ostküste, zwei Autostunden von Boston entfernt. Grandiose Häuser gebe es dort, meilenlange Strände und - wie bald ein ansässiger Juwelier in mein rechtes Ohr flüstern wird - „fortunes you can't imagine", unvorstellbaren Mammon. Watch Hill steht, so spotten die von der Westküste, stellvertretend für den nördlichen Osten des Landes von New York bis zur kanadischen Grenze: standhaft konservativ, diskret, europafreundlich, versessen weißhäutig und ausgesprochen begabt für das furchterregend sorglose Dasein von Zeitgenossen, die mit „silverspoon money" - sprich: auf einem Haufen Geld - zur Welt kommen.

Märchenhafte hundert Kilometer Anfahrt. Watch Hill liegt im äußersten Süden von Rhode Island, dem kleinsten Bundesstaat. Es geht vorbei an rot gestrichenen Bauernhöfen, an funkelnden Kirchturmspitzen, vorbei an den „flaming forests", jenen in Flammen, in Farbenflammen stehenden Wäldern.

Kein Wunder, dass ich irgendwann Jack erwische. Er sitzt neben einem Rastplatz und starrt in die Flammen. So wie es den „Peeping Tom" gibt, der nach bloßen Damen unter Duschen späht, so nennt sich Jack einen „foliage peeper", eben einen, der im Herbst durch Neuengland reist, um nach den Feuerfarben der Blätter zu spähen.

Jeder Reisende weiß es: In reichen Landschaften - reich an Sonne und Schatten, an Wasser und Luft - wohnen Reiche. Warum sollte es in Watch Hill anders sein? Als ich neben dem ersten Fußgänger im Ort anhalte und mich nach einer preisgünstigen Unterkunft erkundige, fragt der Mensch ungläubig zurück: „Cheap?" Er spricht das Wort aus, als würde er nachdenken, was es bedeuten könne, und keine Bedeutung finden. Seine Antwort, wunderbar zweideutig: „Billig? Ich habe keine Ahnung."

Die Dreißigtausend, die täglich während der Sommermonate über die hiesige Bay Street hereinbrechen und ihre Leiber auf den umliegenden Stränden ausbreiten, sie sind verschwunden. Jetzt im Herbst sind die knapp 800 Eingeborenen unter sich. Sinnigerweise nennen sie - sehr britisch in ihrem Understatement - ihre Herrenhäuser nicht „mansions", sondern „cottages", Häuschen. Zudem: Seit geraumer Zeit protzen Reiche - weltweit - weniger auffällig. Um nicht das weltweit wachsende Gesindel zu verlocken. Deshalb auch der weniger pompöse Umgang mit der Sprache.

Watch Hill sieht gut aus. Auf Hügeln und Kuppen stehen rund 180 Schlösser, nur ein paar Meter über dem anrollenden Meer, nur getrennt durch schmale, lautlose Straßen und stille, beschützende Eichen und Kiefern. Mit echten Schindeln auf den Dächern. Und schwindelerregenden Auffahrten und Hecken, die wie toupierte Pudelschwänze in den dramatischen, tiefenscharfen Himmel ragen.

Schon am ersten Abend wird klar, wie ich die restlichen Abende hier verbringen werde: als Nachtwächter. Denn um diese Zeiten bin ich der Einzige ohne Schlossadresse. Und andere Obdachlose gibt es hier nicht. Auch keine obdach-losen Hunde. Wenn ich zwei Pudelschwänze auseinander biege, sehe ich auf hell erleuchtete, mannshohe Fenster, dahinter Männer und Frauen, die sich souverän vom Kamin zur Couchgarnitur bewegen. Und wieder zurück. Dabei immer mit feinem Geschirr hantierend. Einmal gelingt mir der Blick in eine Küche. Wobei ich nicht gleich erkenne, um was es sich handelt. Ich schaue in zwei Türen, aus denen gleißendes Licht strahlt. Bis ich begreife, dass es sich um einen riesigen, gläsernen Kühlschrank handelt, groß genug, um zwei Elefanten einzufrieren.

Hinter den Fenstern inszenieren sie mit erlesener Langeweile einen Empfang: Zehn Ehepaare einladen, um drei Tage später und drei Ecken weiter selber eingeladen zu werden. Diesen Zeitvertreib hat der liebe Gott erfunden, wie er das Rasenmähen und Autowaschen für die niederen Klassen erfunden hat, um die Menschheit am Selbstmord zu hindern. Damit keiner aufschreit und schreiend nach einem anderen Leben sucht.


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mare No. 26

No. 26Juni / Juli 2001

Von Andreas Altmann und Tina Barney

Andreas Altmann, Reporter und Autor, lebt in Paris. 1992 erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1999 schrieb er ein Buch über seine Amerika-Reisen: Im Land der Freien (Rowohlt Verlag). In diesem Jahr erschien im Picus Verlag in Wien sein Reisebericht: Im Herz ein Feuer. Unterwegs von Kairo in den Süden Afrikas. In mare No. 24 berichtete Altmann über die Akademie der US-Marine in Annapolis

Die Fotografin Tina Barney ist am Watch Hill aufgewachsen. Mit 28 Jahren begann sie, ihre Familie und Bekannte aus Neuengland zu porträtieren. Fotos und Zitate stammen aus ihrem 1997 veröffentlichten Buch Fotografien. Von Familie, Sitte und Form (Scalo Verlag, Zürich)

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Vita Andreas Altmann, Reporter und Autor, lebt in Paris. 1992 erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1999 schrieb er ein Buch über seine Amerika-Reisen: Im Land der Freien (Rowohlt Verlag). In diesem Jahr erschien im Picus Verlag in Wien sein Reisebericht: Im Herz ein Feuer. Unterwegs von Kairo in den Süden Afrikas. In mare No. 24 berichtete Altmann über die Akademie der US-Marine in Annapolis

Die Fotografin Tina Barney ist am Watch Hill aufgewachsen. Mit 28 Jahren begann sie, ihre Familie und Bekannte aus Neuengland zu porträtieren. Fotos und Zitate stammen aus ihrem 1997 veröffentlichten Buch Fotografien. Von Familie, Sitte und Form (Scalo Verlag, Zürich)
Person Von Andreas Altmann und Tina Barney
Vita Andreas Altmann, Reporter und Autor, lebt in Paris. 1992 erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1999 schrieb er ein Buch über seine Amerika-Reisen: Im Land der Freien (Rowohlt Verlag). In diesem Jahr erschien im Picus Verlag in Wien sein Reisebericht: Im Herz ein Feuer. Unterwegs von Kairo in den Süden Afrikas. In mare No. 24 berichtete Altmann über die Akademie der US-Marine in Annapolis

Die Fotografin Tina Barney ist am Watch Hill aufgewachsen. Mit 28 Jahren begann sie, ihre Familie und Bekannte aus Neuengland zu porträtieren. Fotos und Zitate stammen aus ihrem 1997 veröffentlichten Buch Fotografien. Von Familie, Sitte und Form (Scalo Verlag, Zürich)
Person Von Andreas Altmann und Tina Barney