Unter Zwang?

Bei Minenräumarbeiten an Dänemarks Stränden starben nach Ende des Zweiten Weltkriegs 150 deutsche Soldaten, darunter viele Jugendliche. War ihr Tod vermeidbar?

Frühsommer 1945 an der dänischen Küste, die Sonne gleißt über den Wellen vor dem breiten weißen Strand. Eine sanfte Brise weht. Es ist Frieden! Hinter den Dünen arbeiten sechs Jungen, sie tragen Uniformen, doch mit ihren schlaksigen Körpern und Wangen ohne Bartschatten sehen sie nicht aus wie richtige Soldaten. Sie wuchten schwere Metallplatten auf einen Lastwagen: entschärfte Tellerminen. Sobald die Jungen mit ihrer Arbeit fertig sind, können die Menschen endlich wieder an den Strand. 

Plötzlich ein Knall, ein Feuerball: Beim Aufladen ist eine der Minen explodiert – und mit ihr die ganze Wagenladung. Von den sechs Jungen ist nichts mehr zu finden. Wie kann eine Mine nach dem Entfernen des Zünders explodieren? Ein Fabrikationsfehler? 

Der 2017 mit dem Oscar für den besten ausländischen Film nominierte dänische Spielfilm „Unter dem Sand“ von 2015 gibt darauf keine Antwort. Regisseur Martin Zandvliet interessiert sich für eine andere Frage: Trägt Dänemark Mitschuld am Tod von deutschen Kriegsgefangenen, viele von ihnen gerade 16 oder 17 Jahre alt?

„Wer alt genug ist, in den Krieg zu ziehen, kann danach auch aufräumen“, sagt ein dänischer Offizier in dem Film. Die minderjährigen Soldaten werden zur Eile angetrieben, müssen arbeiten, wenn sie krank sind, bekommen wenig zu essen. „Man hätte diese Jungen besser behandeln sollen“, sagte Zandvliet zur Premiere. „Das war nicht ihr Krieg, aber wir sind als Rächer aufgetreten.“

Solche Sätze treffen das dänische Selbstverständnis tief. Sind nicht die Angehörigen des dänischen Widerstands in der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet worden für die Rettung fast aller dänischen Juden, die nächtens mit Fischerbooten über den Öresund nach Schweden gebracht worden waren, eine Glanzleistung der Zivilcourage? Das Land hat die deutsche Besatzung und den Krieg mit Anstand überstanden: Diese Überzeugung wird in Dänemark kaum angezweifelt. „Doch eine unterdrückte Nation, die immer nur Gutes tun wollte und selbstverständlich zahlreiche Helden in der Widerstandsbewegung hatte: Das kann nicht die ganze Wahrheit sein“, erklärte Zandvliet. „Fünf Jahre deutsche Besatzung haben bei den Dänen verständlicherweise viel Hass aufgestaut.“

Auszubaden hatten ihn die jungen deutschen Soldaten nach der Kapitulation, meinte der Historiker Helge Hagemann Ende der 1990er-Jahre, dessen Buch „Under tvang“ („Unter Zwang“) Zandvliet inspirierte. Seine These: Laut Genfer Konvention dürfen Kriegsgefangene nicht zu gefährlichen Arbeiten herangezogen werden; der Tod von rund 150 Minenräumern sei demnach ein Kriegsverbrechen. Hagemann zitiert aus einem Protokoll Hauptmann Geuers, der die deutschen Minenräumer anführte: „Die Soldaten gehen nur noch unter Zwang und unter Zittern ins Minenfeld. Es ist unmöglich, ihnen Befehle zu erteilen, denn sie sagen sich: Ob wir bei der Minenräumung Augen, Hände oder Beine verlieren oder gar getötet werden oder ob wir von den Engländern erschossen werden, ist uns gleichgültig.“

Mit dem Bericht will Geuer eine bessere Lebensmittelversorgung für seine Leute erreichen. Es ist also möglich, dass er die Situation überzeichnete. Aber irgendjemand musste die Arbeit erledigen, und ein zeitgenössischer Dokumentarfilm, von der dänischen Regierung nach der deutschen Kapitulation in Auftrag gegeben, lässt keinen Zweifel, von wem. 

„Wir brauchen nicht länger Bomben und den Terror der Deutschen zu fürchten“, sagt der Sprecher. „Aber eine bösartige und todbringende Sache ist uns geblieben.“ Man sieht ein kleines Mädchen durch die Dünen hüpfen, gefolgt von einem schnellen Schnitt auf eine Explosion. Dann Minenräumer bei der Arbeit und der Sarkasmus des Sprechers: „Eineinhalb Millionen Landminen haben die Deutschen vergraben. Jetzt erhalten sie die Erlaubnis, sie wieder auszugraben.“ Wieder eine Detonation, ein blutjunger Leutnant mit Augenklappe schaut erschrocken. Krankenwagen rasen, in einem Lazarett sieht man junge Kerle mit Arm- und Beinstümpfen, ein älterer Soldat blickt bedauernd und zuckt mit den Schultern: Die Opfer sind unvermeidlich, und sie sind selbst verschuldet, soll das heißen.

Die Minenfelder in Dänemark waren Teil des „Atlantikwalls“, mit dem Nazideutschland eine alliierte Invasion in Europa verhindern wollte. Entlang den Küsten von Frankreich bis Norwegen errichteten lokale Arbeitskräfte und Zwangsarbeiter rund 12 000 Bunker und Geschützstände. Pioniere verlegten rund 6,5 Millionen Minen, fast ein Viertel davon in Dänemark. Alle Mühe und Heimtücke waren vergeblich: Die Alliierten landeten in Frankreich, die Deutschen in Dänemark kapitulierten am 5. Mai 1945. Ein Zug von 110 000 Besatzern machte sich auf Richtung Süden in die britische Internierung auf der Halbinsel Eiderstedt. Nur die Pioniereinheiten, also die minenkundigen Soldaten, mussten in Dänemark bleiben, so verlangten es die Briten. Den Aufnäher mit dem Hakenkreuz unter dem Reichsadler schnitten die Soldaten im „Minenkommando Dänemark“ von ihren Uniformen. Wenn ein Soldat bei einem Unfall versehrt wurde, bekam er zuverlässig das „Verwundetenabzeichen“ verliehen und eine Urkunde, die mit Stempel und Frakturschrift „in Anerkennung des tapferen Einsatzes“ die Verleihung des Ordens bezeugte: Das „Dritte Reich“ lag in Schutt und Asche, aber die Wehrmacht funktionierte auf Geheiß der Sieger weiter.


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mare No. 132

No. 132Februar / März 2019

Von Bernd Hauser

Bernd Hauser, Jahrgang 1971, schreibt unter anderem für Stern, Geo und die NZZ am Sonntag. Er ist mit einer Dänin verheiratet, lebt seit 18 Jahren in Kopenhagen und stellt am Abend des 4. Mai mit seiner Familie immer Kerzen auf die Fensterbänke. Mit diesem Brauch erinnern die Dänen bis heute an das Ende der Naziherrschaft in ihrem Land.

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Vita Bernd Hauser, Jahrgang 1971, schreibt unter anderem für Stern, Geo und die NZZ am Sonntag. Er ist mit einer Dänin verheiratet, lebt seit 18 Jahren in Kopenhagen und stellt am Abend des 4. Mai mit seiner Familie immer Kerzen auf die Fensterbänke. Mit diesem Brauch erinnern die Dänen bis heute an das Ende der Naziherrschaft in ihrem Land.
Person Von Bernd Hauser
Vita Bernd Hauser, Jahrgang 1971, schreibt unter anderem für Stern, Geo und die NZZ am Sonntag. Er ist mit einer Dänin verheiratet, lebt seit 18 Jahren in Kopenhagen und stellt am Abend des 4. Mai mit seiner Familie immer Kerzen auf die Fensterbänke. Mit diesem Brauch erinnern die Dänen bis heute an das Ende der Naziherrschaft in ihrem Land.
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