Unter jedem Ort ein anderer Ort

Die Fotografin Nicole Strasser durchkreuzte für den mare-Bildband die Normandie. Ihre Bilder zeigen, dass eine Reise durch das grün-weiß-blaue Küstenland am Ärmelkanal unweigerlich zu einer Suche nach der verlorenen Zeit gerät

Man muss kein Naturschwärmer sein, um von diesem Küstenland bezaubert zu werden. Selbst der Dichter Voltaire, der in mancher Hinsicht das Gegenteil eines naturverbundenen Menschen war, geriet beim Anblick der normannischen Apfelblüte ins Verzücken. So allgegenwärtig, so dominierend ist im Frühjahr ihre Wirkung auf den Betrachter, dass man sagen kann: Wenn Frankreich ein Landgut ist, dann ist die Normandie seine Obstwiese. Und das Grün ist so satt und von der feuchten Seeluft so glänzend, dass es beinahe übertrieben wirkte, würde es nicht vom Dunst verschleiert und von den irisierenden Reflexen der Vegetation umspielt; sie sind es, die auf vielen Bildern der Impressionisten wie kleine, intime Feuerwerke aufglimmen. Akzente lockern die Palette auf: die Fachwerkhäuser, die sich hinter üppig grünen Hecken vornehm verbergen, Wochenendträume jedes Parisers; am Ufer des Ärmelkanals das leuchtende Kalkweiß der falaises; das verwaschene Blau des Meeres, das sich in Falten von Tausenden Graus wirft, sobald sich der Himmel eintrübt. Was es oft tut. Cherbourg an der Spitze des Cotentin behauptet den melancholischen Ruhm für sich, Frankreichs regenreichste Stadt zu sein. „Les parapluies de Cherbourg“ hieß ein erfolgreicher Film der 1960er mit der jungen Catherine Deneuve; sein Titel war den Einheimischen höchst plausibel.

Die Ambivalenz der Menschen in dieser Landschaft, ihrer Beharrlichkeit und ihres zielstrebigen Wagemuts: Sie haben den anderen Bewohnern des französischen Hexagons eine gediegene Art der Bodenständigkeit voraus, die jederzeit in stolzen Starrsinn umschlagen kann. In der französischen Folklore gelten die Normannen als abwartend, misstrauisch und zäh – Bauerntugenden eigentlich, zugleich aber das Merkmal mutiger Seefahrer, von denen die Normandie überdurchschnittlich viele hervorgebracht hat. Das Bild des normannischen Entdeckers, Eroberers, Handelsseefahrers, immer in den Armen des Todes, gehört zum kollektiven kulturellen Gedächtnis der Franzosen.

Auch in unserer Epoche ist sie durch und durch Bauern- und Fischerland. Daran ändern auch die mit reichlich Investitionshilfe von Paris in den Peripherien von Rouen, Cherbourg oder Le Havre errichteten technopoles nichts, denen Pariser Technokraten und ihre Adepten in der Präfektur von Rouen in jüngster Zeit gern das Etikett Normandigital anheften, um den erhoff- ten Strukturwandel zu befördern. Aber die Anstrengungen wirken mühsamer als anderswo in Frankreich. Sieht man von den vergleichsweise eng begrenzten An- siedlungen von Industrie an der Seinemündung und vom Hafen in Le Havre ab, bleibt die Normandie, was sie seit je war: ein Lieferant von Lebensmitteln wie Fleisch, Geflügel, Butter und Käse, Äpfel und Birnen, Fisch und Meeresfrüchte, dies alles in einer Qualität, die Touristen in ehrfürchtiges Staunen versetzt.

Festhalten an der Tradition – das zeichnet die Normannen aus, bei aller Offenheit für die Welt von heute und morgen. So ist, anders als etwa in der nahen Bretagne, die politische Stabilität der traditionell eher rechts als links wählenden Normandie in Frankreich sprichwörtlich. In der windungsreichen Geschichte der Normandie vom gallischen Siedlungsgebiet bis zum heutigen Frankreich: Überall finden sich Spuren des pragmatischen Ordnungssinns der Normannen. Er könnte die Erklärung dafür sein, dass die Nor- mandie in allen Kategorien menschlichen Schaffens eher geerdete, bodenständige Erscheinungsformen hervorbrachte, in Architektur, Handwerk, Kunstgewerbe, ja sogar in der Kunst und Literatur.

Es waren die Maler des späteren 19. Jahrhunderts, die den Reiz eines aufgewühlten Himmels, einer Regenlandschaft entdeckten. Diese Küste hat von Wellen ausgehöhlte Klippen, helle Strände, ein Hinterland mit einem offenen Horizont, einen oft tief hängenden Himmel, von Pappeln gesäumte Chausseen, leuchtende Weiden und einsame Hochebenen – all diese Merkmale sind stark genug, um zu einer lebendigen, sinnenhaften Kunst zu inspirieren.


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mare No. 136

No. 136Oktober / November 2019

Von Karl Spurzem und Nicole Strasser

Nicole Strasser studierte Fotografie an der Hochschule Hannover. Ihre entschleunigten Reisen in der Normandie lehrten sie einen neuen Begriff von Zeit.

mare-Redakteur Karl Spurzem ist des Öfteren durch die Normandie gereist. Noch heute erinnert er sich in Honfleurs Gassen an Piratenfantasien in Kindertagen.

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Vita Nicole Strasser studierte Fotografie an der Hochschule Hannover. Ihre entschleunigten Reisen in der Normandie lehrten sie einen neuen Begriff von Zeit.

mare-Redakteur Karl Spurzem ist des Öfteren durch die Normandie gereist. Noch heute erinnert er sich in Honfleurs Gassen an Piratenfantasien in Kindertagen.
Person Von Karl Spurzem und Nicole Strasser
Vita Nicole Strasser studierte Fotografie an der Hochschule Hannover. Ihre entschleunigten Reisen in der Normandie lehrten sie einen neuen Begriff von Zeit.

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