Umzingelt von Bergen sieht er den Horizont

Der Schweizer Albi Brun baut in seiner Werkstatt in den Bergen wundersame Hirn­gespinste: Wasserfahrzeuge, die Schiffbauer ein wenig neidisch machen

Landquart. So heißt eine politische Gemeinde mit 8900 Einwohnern im schweizerischen Kanton Graubünden. 1858, als die Bahnstrecke aus dem Rheintal nach Landquart und bis in die graubündnerische Hauptstadt Chur eröffnet wurde, war dieser Ort ein unbedeutender Flurname in einer von Feldern und Kiefernwäldchen überzogenen Ebene. Das heutige Dorf existierte noch nicht. Dort standen, weit verstreut auf dem Wiesland, eine Zollbrücke, ein Wasserschloss aus dem 13. Jahrhundert und ein Bauernhof. Dass Landquart zu einem wichtigen Bahnknotenpunkt wurde, verdankt der Ort ausgerechnet einem Seefahrer aus den Niederlanden, Willem Jan Holsboer (1834–1898). Der fuhr schon im Alter von 14 Jahren zur See und brachte es bis zum Kapitän. Er weilte zur Zeit des Goldrauschs sogar in Kalifornien und hatte die undankbare Aufgabe, sein Schiff mit meuternden Matrosen wieder zurück nach Europa zu führen. Der Seefahrt überdrüssig, wurde er Banker in einer niederländischen Bank in London und stieg zu deren Direktor auf. Dann erkrankte 1867 seine Frau an Tuberkulose. Holsboer reiste mit ihr zum deutschen Spezialisten Alexander Spengler nach Davos, doch ein halbes Jahr später verstarb sie, erst 20-jährig. Holsboer blieb in Davos, gründete mit Alexander Spengler die Kuranstalt Spengler-Holsboer und den örtlichen Kur- und Verkehrsverein.

Der Niederländer mag sich daran erinnert haben, wie mühsam die Reise mit seiner todkranken Frau von London nach Davos war, zuletzt mit Umsteigen in Landquart auf die Postkutsche, um die 42 Kilometer und 1000 Höhenmeter nach Davos zu bewältigen. Möglicherweise war dies der Auslöser für seinen Plan, ein Bahnunternehmen zu gründen, das Landquart und Davos mit einer Schmalspurstrecke verbinden sollte. 1889 fuhr der erste Zug. Holsboer wird als Begründer der Rhätischen Bahn mit einem Streckennetz von heute 384 Kilometern gefeiert – ein Tausendsassa, ein Flachländer, ein Seefahrer, der in den Bergen Gleise bauen ließ.

Weshalb hier Landquart ausführlich erwähnt wird, hat seinen Grund: Albi Brun, der Hauptakteur dieses Berichts, wurde dort 1942 geboren und erlebte eine aufregende Kindheit. Wie kam es, dass einer, der in einem von 2000 Meter aufragenden Bergen umgebenen Tal aufwuchs, wo das nächste Meer über 250 Kilometer weit weg ist, sich für die Seefahrt interessiert und zum Kreateur eigenwilliger Modellsegelschiffe wurde? Alles begann in Bruns früher Jugend. Sein Interesse an maritimen Themen geht auf seinen Spielplatz am Alpenrhein zurück. Damals hatten Kinder noch immense Freiräume. Wo heute alles gerodet, überbaut und von einer vierspurigen Autobahn samt Raststätte durchschnitten ist, war eine Auenlandschaft mit Spitzbeere, Sanddorn, Erlen und Weihern. Das war während Bruns Primarschulzeit der Tummelplatz einer Bande von einem halben Dutzend Arbeiterkindern.

„Jede freie Minute verbrachten wir in unserem Reservat, ohne Aufsicht von Erwachsenen“, erinnert sich Brun. „Im Sommer nahmen wir in den Tümpeln Schlammbäder, und im Winter frästen wir mit Schlittschuhen übers Eis. Im Rhein habe ich schwimmen gelernt. Wir haben ihn öfters schwimmend überquert. Flossen kannten wir noch nicht.“ Das von den Gletschern herunterströmende Wasser sei eiskalt gewesen und die Strömung den Buben nicht besonders freundlich gesinnt. Aber durch das Übersetzen ans andere Ufer konnten sie ihren Radius für Entdeckungsreisen erweitern. Alle hätten überlebt, so Albi Brun.

„Wir Knaben herrschten von unserem neunten bis fast zum 17. Lebensjahr uneingeschränkt wie Könige über unser Reich am Wasser.“ Eines Tages begannen die Jungs, aus Schwemmholz, Kistenbrettern, Latten und Blechkanistern Flöße zu bauen. Material dazu hatte der Bub genügend herangeschleppt – aus der Abfallgrube der Hauptwerkstätte der Rhätischen Bahn, die nahe seinem Wohnhaus stand. Dort versorgte sich Albi auch mit Kleinteilen aus Messing und Kupfer. Von diesem Fundus zehrt er heute noch für den Bau seiner fantastischen Werke.

Heute wohnt und arbeitet der verhinderte Kapitän in der Kantonshauptstadt Chur, wo er sich einst zum Grafiker ausbilden ließ; zu einer Zeit, als dieser Beruf noch mit Lineal, frisch gespitztem Bleistift, Feder und Tusche ausgeführt wurde. Doch er war einer der ersten seiner Gilde, der die Möglichkeiten von Grafikprogrammen seit Mitte der 1980er-Jahre nutzte. Seither stehen in seinem Atelier Computerbildschirme. Auf der ersten Etage lebt und wirkt der, wie es die Aufschrift an der Klingel verkündet, „Flug-, Schwimm- und Fahrzeuger“ Albi Brun. Untertitel: „Abteilung für künstlerische und handwerkliche Umtriebe“. Die Räume sind Ideenwerkstatt und Wohnung von Albi Brun, dessen Frau Helene und zweier Norwegischer Waldkatzen namens Skessa (w) und Silas (m). Als diese vierköpfige Wohngemeinschaft innerhalb des Gebäudes umzog, war der Hausrat das kleinere Problem. Das größere waren all die Kisten mit Bruns Werkzeugen und den Rohstoffen seiner Leidenschaft.

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mare No. 130

Oktober / November 2018

Von Charly Bieler

Charly Bieler, geboren 1948, Autor von bisher neun Sachbüchern, war bis zu seiner Pensionierung Journalist bei Zürcher Tages- und Wochenzeitungen. Mit Brun verbindet ihn eine 45-jährige Freundschaft. Diese nahm am Hinterrhein ihren Anfang, als die großen Jungs dort mit dem Bau von Schwemmholzflößen Seefahrer spielten – wie Brun und seine Schulkameraden früher auf den Tümpeln.

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Vita Charly Bieler, geboren 1948, Autor von bisher neun Sachbüchern, war bis zu seiner Pensionierung Journalist bei Zürcher Tages- und Wochenzeitungen. Mit Brun verbindet ihn eine 45-jährige Freundschaft. Diese nahm am Hinterrhein ihren Anfang, als die großen Jungs dort mit dem Bau von Schwemmholzflößen Seefahrer spielten – wie Brun und seine Schulkameraden früher auf den Tümpeln.
Person Von Charly Bieler
Vita Charly Bieler, geboren 1948, Autor von bisher neun Sachbüchern, war bis zu seiner Pensionierung Journalist bei Zürcher Tages- und Wochenzeitungen. Mit Brun verbindet ihn eine 45-jährige Freundschaft. Diese nahm am Hinterrhein ihren Anfang, als die großen Jungs dort mit dem Bau von Schwemmholzflößen Seefahrer spielten – wie Brun und seine Schulkameraden früher auf den Tümpeln.
Person Von Charly Bieler