Übers Meer an die Macht

Die Einwanderer aus Irland und Italien sind nicht gern gesehen. Ihre einzige Chance: Erfolg in der Politik

Irland hungert. Fünf Jahre in Folge lässt die Kartoffelpest die gesamte Ernte auf den Äckern verrotten. Eine Million Menschen sterben; wer die Schiffspassage bezahlen kann, flieht nach Amerika. Zwischen 1846 und 1854 verlassen 1,2 Millionen Iren ihre Heimat, im Gepäck nichts außer der Hoffnung auf ein besseres Leben drüben, auf der anderen Seite des Atlantiks.

Doch Amerika bereitet ihnen einen frostigen Empfang. Mitgefühl für die Entwurzelten? Solidarität mit den Verzweifelten? Keine Spur. Die Bewohner der Neuen Welt verstehen die Zuwanderung aus der Alten Welt als Invasion, als Bedrohung für ihren Arbeitsmarkt und ihre kulturelle Identität. Der fremdenfeindliche Reflex sucht nach einem Angriffspunkt und findet ihn in der Religion der Einwanderer: Die Iren sind Katholiken – wie sollen sie sich je in eine angelsächsische und protestantische Gesellschaft einfügen können?

Die selbst erklärten Schützer der wahren amerikanischen Identität hängen an Fabriken und Geschäften Plakate auf: „Irish need not apply!“, Bewerbung von Iren zwecklos. In New York gründen Fremdenfeinde 1849 den Geheimbund des „Star-Spangled Banner“, auch in anderen großen Städten hat der Hass auf das „Unamerikanische“ bald seine eigene Loge. Auf Fragen nach ihrer Organisation antworten die Geheimbündler stereotyp: „Ich weiß nichts.“ Es wird ihr Markenzeichen. Als „Know-Nothing Party“ treten sie seit 1850 offen bei Wahlen an. Ihre Forderungen: Keine Zuwanderung mehr! Kein Wahlrecht für im Ausland Geborene! 21 Jahre Bewährungsfrist vor der Einbürgerung! 1855 gewinnen die „Know-Nothings“ 43 Sitze im Kongress.

Doch die Einwanderer finden auch Verbündete. Die Tammany Society in Manhattan – mit der Demokratischen Partei eng verbunden – erkennt das Wählerpotenzial, das in den irischen Ghettos der Stadt heranwächst. Tammany ist ein patriotischer Verein, der unter den Vereinigten Staaten mehr als nur das Erbe der britischen Kolonialherren versteht: Seine Ritu- ale sind Anleihen aus der Kultur der Delaware-Indianer, Tammany – der Umgängliche – ist der Name des Häuptlings, von dem der Leitsatz des Clubs stammt: „Helft euch gegenseitig, und ihr werdet ein Berg sein, den niemand bewegen kann!“

Der Verein verschafft den Iren Unterkunft und Jobs, er unterstützt sie bei der Einbürgerung. Tammany hat in jedem Stimmbezirk einen „Boss“, an den sich die Einwanderer jederzeit wenden können. Keine Kohle zum Heizen? Der Boss organisiert sie. Ärger mit der Polizei? Der Boss hat viele Freunde in der Truppe. Tammany wird zum Sicherheitsnetz für die armen Schlucker, die den Sprung über den Großen Teich gewagt haben. Als Gegenleistung machen die Neuamerikaner bei Wahlen ihr Kreuzchen exklusiv bei der Demokratischen Partei.

Es ist das einzige Pfund, mit dem die Iren wuchern können. Skandinavische und deutsche Immigranten können sich die Weiterreise nach Westen leisten, wo es noch Land und Chancen gibt. Die Iren aber sind der Stadt New York ausgeliefert: Irgendwie müssen sie sich hier durchschlagen, ausgerechnet hier. Die Mehrheit von ihnen stammt aus dem wilden Westen Irlands; sie sind Bauern, ungelernte Landarbeiter, jeder Dritte spricht nur Gälisch.

In der Tammany Society können sie trotzdem Karriere machen. Erste Stufe ist die Mitgliedschaft in einer der Straßengangs, die am Wahltag dafür sorgen, dass es keine Überraschungen gibt. Die junge Demokratie ist eine Art Kontaktsport: Außenverteidiger mit bulliger Physis passen auf, dass nur die richtigen Wähler durch die Tür des Wahllokals gelangen.

Auch Richard Croker, Anführer der 4th-Avenue-Tunnel-Bande, gefällt den Talentsuchern von Tammany wegen seines robusten Einsatzes im Wahlkampf. Croker hat nicht einen Tag seines Lebens in der Schule verbracht; was er für ein Leben in der Politik braucht, lernt er auf den Straßen der irischen Lower East Side. 1868 kandidiert der 27-jährige Hungerflüchtling aus der Grafschaft Cork zum ersten Mal für ein politisches Amt – und wird auf Anhieb in den Stadtrat gewählt. Ein Programm kann er nicht vorweisen, aber mit solchem Ballast müht sich ja nicht einmal die Parteispitze ab.

Dort steht der Feuerwehrmann William Marcy Tweed, ein Amerikaner schottischer Abstammung, der die Kunst des Regierens auf eine radikal einfache Formel reduziert hat: Kümmere dich um die Deinen! Und sieh zu, dass du selbst nicht zu kurz kommst! Tweed webt einen dichten Filz: Seine Leute in der Verwaltung vergeben großzügig Aufträge – vorzugsweise an Parteigänger. Wenn es Jobs zu verteilen gibt, gehen sie an die eigene Wählerschaft. Korruption ist in Tweeds Apparat nicht ein Betriebsunfall, sondern die Systemvoraussetzung.

Doch dann überspannt der Boss den Bogen. Beim Bau des neuen Gerichtsgebäudes raubt er mehr, als sich verbergen lässt. 250000 Dollar wollen die Stadtväter ursprünglich für den Bau ausgeben, 13 Millionen muss New York am Ende zahlen. Tweeds Vertraute verzichten auf den Umweg öffentlicher Ausschreibungen – und teilen sich den Unterschied zwischen Markt- und Mondpreis mit den Bauunternehmern. Unglücklicherweise streiten die Plünderer um die Beute, und die „New York Times“ bekommt 1871 Unterlagen zugespielt – das Ende von „Boss“ Tweed.

Sein Abgang macht den Weg frei für die Iren in der zweiten Reihe. John Kelly, gelernter Kaminbauer und erfolgreicher Amateurboxer, übernimmt die Kontrolle über Tammany Hall, als Statthalter wählt er den Aufsteiger Richard Croker. Gemeinsam entfernen sie alle aus der Partei, die dem „Tweed-Ring“ nahe standen; und sie gehen dabei nicht zimperlich vor.


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mare No. 33

No. 33August / September 2002

Von Olaf Kanter

Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft.

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