Überleben wie ein Schiffbrüchiger

Ohne Lebensmittel und Trinkwasser über den Atlantik

Logbuch der „Liberia III“, dritter Tag, 22. Oktober 1956: „Gestern verlor ich das Land aus den Augen. Jetzt bin ich endgültig allein. Für wie lange? Ich rechne mit 70 Tagen.“ Als der deutsche Arzt Hannes Lindemann diese Zeilen notierte, saß er allein in einem Faltboot, mitten in der unendlich scheinenden Weite des Atlantiks. Hinter ihm lagen die Kanarischen Inseln, von wo aus er zu seiner waghalsigen Überfahrt gestartet war. Vor ihm lagen 72 Tage und Nächte auf dem Atlantik, in einem fünf Meter langen und ein Meter breiten Boot.

Erst in der Karibik sah er wieder Land: die Insel St. Martin. „Ich rappele mich aus dem Boot, ein Brecher schüttet das letzte Wasser in mein Sitzloch. Ich taumele und stürze; da kommen von der Mole einige beherzte Männer hinzu und tragen das Boot endgültig aus dem Bereich der Brandung.“ Die Strapazen hatten ein Ende – nach 5500 Kilometern im Kampf gegen die Elemente. Zwar hatte Lindemann 50 Pfund an Gewicht verloren. Aber er war kerngesund.

Hannes Lindemanns Atlantiküberquerungen im Faltboot und ein Jahr zuvor im Einbaum zählen zu den großen Abenteuern des Jahrhunderts. Eine „tiefe, unbestimmbare, fast religiöse Kraft“ habe ihn hinausgetrieben, erzählt der Mediziner, dessen Faltboot heute im Deutschen Museum in München ausgestellt ist. Und da war die Neugierde des Forschers: „Als freiwilliger Schiffbrüchiger wollte ich die Probleme des Überlebens auf dem Meer am eigenen Leib lösen.“

Da er kein Hasardeur ist, nahm er sehr wohl einige Vorräte mit an Bord, als er 1955 mit dem Einbaum erstmals auslief. Er wusste, dass Mangel an Süßwasser – außer einer Seelenkrise – die entscheidende Hürde in der blauen Wüste ist. Gereizt habe ihn deshalb vor allem die „Salzwasserfrage“, seinerzeit hochgespielt von Lindemanns Kollegen Bombard und Aury. Die Franzosen verkündeten, wer Salzwasser in kleinen Mengen trinke, leide nicht unter Durst- und Hungergefühlen. Das könne man problemlos sechs Tage lang durchhalten. „Das können Sie getrost vergessen“, weiß Lindemann heute.

Doch zu Beginn seiner Fahrt mit dem Einbaum würgte er täglich einen halben Liter Salzwasser herunter – um seinen knappen Süßwasservorrat zu strecken. Wann, fragte er sich, wird der Körper gegen diese Brühe rebellieren? Schneller, als ihm lieb war. Schon am ersten Tag schwollen die Füße an und kurz danach die Beine bis zu den Knien hinauf. Blut quoll aus der Haut. Diskussion beendet: „Trank ich kein Salzwasser, hatte ich auch keine Ödeme.“

Auf Meerwasser zählte Lindemann also nicht mehr, als er ein Jahr später zum zweiten Mal in See stach, diesmal mit dem Faltboot „Liberia III“. „In diesem Gummischuh würde ich mich noch mehr als im Einbaum mit den Elementen herumschlagen müssen, um überhaupt zu überleben.“ Und er nahm noch weniger Vorräte mit als beim ersten Mal. 60 Dosen mit Bohnen und Erbsen, Honig und Früchten, Karotten, Käse und Thunfisch sollten reichen. Geradezu verrückt erscheint, dass er bald 15 Konserven mit Lebensmitteln über Bord warf – lag doch das Faltboot zu tief und lief bei starkem Wind ständig voll.

Das zerrte an den Nerven. Lindemann wusste: „Kalorisch brauche ich mir keine Sorgen zu machen; außerdem sitzt unter meiner Haut genügend Fett.“ Die 96 Dosen Milch und 72 Dosen Bier indes waren unverzichtbar. Nicht, dass Lindemann dem Gerstenbräu verfallen gewesen wäre. „Da ein hungernder Mensch wegen seines sauren Stoffwechsels leicht ins Delirium fällt“, erzählt er, „habe ich mir von den basischen Ionen des Bieres und der Milch einen positiven Einfluss versprochen.“ Und Trinkwasser? Ganze drei Liter in seinen Aluminiumflaschen sollten ihn zwingen, sich in den nächsten zwei Monaten anderweitig mit dem Lebenselixier zu versorgen.

In diesem Bestreben testete der Abenteuersegler eine weitere These Bombards. Wie Seemannsgarn hatte dessen Behauptung geklungen, er habe Flüssigkeit aus Fischfleisch gewonnen. „Da hat er geschwindelt, wie so häufig“, poltert Lindemann heute. Damals packte er kleine Stücke Fisch in ein Taschentuch oder einen Plastikbeutel und kaute darauf herum, um die Flüssigkeit herauszupressen. Doch mehr als einen Mus bekam er nicht. Nur Augen, Gehirn und Rückenmark eines Fisches könnten überhaupt Wasser liefern. Wieviel? Kümmerliche zwei oder drei Kubikzentimeter gewann Lindemann, als er diese Organe schluckte. Kaum größer waren die Mengen, die sich als Kondenswasser an den Aluminiumflaschen absetzten. „Das nützt höchstens Schiffbrüchigen, die schon völlig dehydriert sind.“


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mare No. 17

No. 17Dezember 1999 / Januar 2000

Von Klaus Wilhelm

Klaus Wilhelm, Jahrgang 1961, lebt als freier Wissenschaftsjournalist in Berlin. Dies ist sein erster Beitrag in mare

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