Überflieger unter Wasser

Delfine sind Meisterschwimmer, clevere Teamspieler, versierte Sänger und Asse in Sachen Orientierung sowieso

Geboren zu werden gehört zu den unangenehmeren Erfahrungen des Lebens. Zumindest erblickt der Mensch das Licht der Welt nicht in einer bodenlosen Wasserwüste, aus deren blauen Tiefen jeden Augenblick hungrige Haie schießen können. Für einen jungen Delfin ist das nämlich ganz normal. Fluke voran wird er in eine nach menschlichen Maßstäben kalte und feindliche Umwelt entlassen. Doch die allzu menschelnde Sichtweise, die im Fall der sympathischen Meeressäuger besonders verführerisch ist, hat oft wenig mit der Lebenswirklichkeit der Tiere zu tun. Immerhin tut sich die Delfinmutter in kompletter Ermangelung eines Beckengürtels beim Gebären wesentlich leichter als die Menschenmutter, die bekanntlich zu einer langwierigen Geburt unter Schmerzen verurteilt ist.

Das Delfinjunge erblickt das Licht der Welt dagegen schon wenige Minuten, nachdem seine Schwanzflosse erstmals aus dem Geburtskanal lugt. Auch für die ersten Momente nach der Geburt haben 50 Millionen Jahre Evolution das Kleine perfekt angepasst: Anstatt sich gleich beim ersten Atemzug zu verschlucken, lenken sein Instinkt und die Schnauzen von Mutter und Tanten das Junge als Erstes an die Wasseroberfläche. Nachdem es dort seine Lungen mit Luft gefüllt hat, beginnt sofort der Ernst des Lebens: Der Jungdelfin muss von Anfang an mit seiner Sippe mithalten, für eine behütete Kindheit als Nesthocker bleibt keine Zeit. Nicht einmal für einen erholsamen Schlaf, wie der amerikanische Zoologe Jerome Siegel vor kurzem im Wissenschaftsmagazin „Nature“ berichtete. Siegel beobachtete in Gefangenschaft lebende Schwertwale und Tümmler und ihren Nachwuchs. Dabei stellte er fest, dass die Neugeborenen in den ersten vier Lebenswochen kein Auge zutun und dabei auch ihren Müttern den Schlaf rauben. Erst später legen sie kurze Ruhephasen ein, bis sie als Erwachsene ähnlich dem Menschen ein Drittel ihrer Lebenszeit verschlafen. Wobei Delfine sich ohnehin nie völlig im Schlaf versenken: Während eine Hirnhälfte abschaltet, schiebt die andere Hälfte Wache – eine Arbeitsteilung.

Anpassungen wie diese machen die Delfine zum global verbreiteten Erfolgsmodell der Evolution. Am offenkundigsten wird dies in ihrem Körperbau, dessen äußerliche Merkmale jenem von Hochseefischen so sehr ähnelt, dass Delfine und Wale von den meisten Menschen vergangener Jahrhunderte für Fische gehalten wurden: Was dem Fisch Rücken-, Brust- und Schwanzflossen, sind dem Delfin Rückenfinne, die zu Flippern umgestalteten Vorderextremitäten und die ausschließlich aus Bindegewebe bestehende Fluke, die von überaus kräftigen Muskelpaketen in der Schwanzregion bewegt wird.

Erst bei genauem Hinsehen werden die Unterschiede deutlich. Während sich Fische stets seitwärts schlängelnd fortbewegen, treibt die horizontal stehende Fluke den Delfin mit senkrechten Bewegungen voran. Und in den äußerlich einheitlichen Flippern finden sich beim Delfin noch die Reste säugetiertypischer Fingerknochen. Letzte Zweifel räumt der Blick auf seine innere Anatomie aus: Kreislauf, Plazenta und Milchdrüsen weisen den Delfin eindeutig als Säugetier aus.

Der über Äonen vollzogene Sprung der Delfinahnen ins kalte Wasser begann vor etwa 60 Millionen Jahren vermutlich mit der Gattung Mesonyx, wolfsgroßen Raubtieren aus der Verwandtschaft der heute als Schweine oder Nilpferde bekannten Paarhufer. Die Mesonychiden lebten an den Küsten und fraßen Fisch, Muscheln und Krabben. Mehr und mehr passten sich ihre Nachfahren dem Leben im Wasser an. Als lange gesuchter Missing link gilt Ambulocetus natans, der sich bereits mit Hilfe seines Schwanzes unter Wasser fortbewegte. Amerikanische Paläontologen fanden seine Fossilien 1992 in rund 52 Millionen Jahre alten Sedimenten in Pakistan. Die endgültige Abnabelung vom Festland vollzog zehn Millionen Jahre später die Gattung Basilosaurus: Ihre Hinterbeine waren auf kleine Stummel reduziert, die Nasenlöcher bereits ein gutes Stück nach hinten gerückt. Noch einmal zehn Millionen Jahre später hatten sich ihre Nachfahren bereits in die beiden heute existierenden Typen von Walen aufgeteilt: Bartenwale, die mit Hornborsten im Maul Kleintiere aus dem Wasser filtern, und aktiv jagende Zahnwale, zu denen auch die Delfine gehören, welche sich aber erst vor rund zehn Millionen Jahren als eigenständige Familie abspalteten.

So weit der wissenschaftliche Mainstream – wie die Evolution der Wale im Einzelnen verlaufen ist und wie daher die genauen Verwandtschaftsverhältnisse der heute lebenden Arten aus der Ordnung der Cetaceen zu bewerten sind, gehört zu den heiß diskutierten Themen der Walkunde. Deshalb kommen Cetologen auch in Bedrängnis, wenn sie die genaue Zahl verschiedener Arten angeben oder auch nur den Begriff „Delfin“ genauer definieren sollen. Delfin, Tümmler, Wal – diese Bezeichnungen werden oft recht willkürlich und austauschbar über die Unterordnung der Zahnwale verteilt, zu denen neben den Delfinen im engeren Sinn auch Pott-, Schweins-, Schnabel- und Entenwale gehören. So ist der Irawadi-Delfin eher mit Weiß- und Narwal verwandt, während sich in der eigentlichen Familie der Delfine auch Grindwale und der Schwertwal tummeln. Weitgehend unklar ist die Zuordnung der Flussdelfine aus Amazonas, Jangtse und Ganges, die vermutlich unabhängig voneinander in die großen Ströme vordrangen und dort erst später ähnliche Merkmale entwickelten.


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mare No. 56

No. 56Juni / Juli 2006

Von Georg Rüschemeyer

Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, ist Biologe und lebt als freier Wissenschaftsjournalist in Leipzig. Er schreibt regelmäßig für die Frankfurter Sonntagszeitung. Seine letzten Erfahrungen mit Delfinen sammelte er, als er in der Mündung des irischen Flusses Shannon versuchte, die Meeressäuger mit seiner Digitalkamera zu fotografieren – wegen der Auslöseverzögerung war auf 90 Prozent der Bilder nur Wasser zu sehen.

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Vita Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, ist Biologe und lebt als freier Wissenschaftsjournalist in Leipzig. Er schreibt regelmäßig für die Frankfurter Sonntagszeitung. Seine letzten Erfahrungen mit Delfinen sammelte er, als er in der Mündung des irischen Flusses Shannon versuchte, die Meeressäuger mit seiner Digitalkamera zu fotografieren – wegen der Auslöseverzögerung war auf 90 Prozent der Bilder nur Wasser zu sehen.
Person Von Georg Rüschemeyer
Vita Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, ist Biologe und lebt als freier Wissenschaftsjournalist in Leipzig. Er schreibt regelmäßig für die Frankfurter Sonntagszeitung. Seine letzten Erfahrungen mit Delfinen sammelte er, als er in der Mündung des irischen Flusses Shannon versuchte, die Meeressäuger mit seiner Digitalkamera zu fotografieren – wegen der Auslöseverzögerung war auf 90 Prozent der Bilder nur Wasser zu sehen.
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