Tunnelblick

Über 250 Jahre lang erregte die Idee eines Tunnels unter dem Ärmelkanal Visionäre in England und Frankreich. Aber erst vor 37 Jahren gelang es den Briten, ihre Ängste zu überwinden

Kopf an Kopf, nur durch eine Wand getrennt, träumen 1907 der britische König Edward VII. und der französische Präsident Clément Armand Fallières gleichzeitig von einem Eisenbahntunnel, der England und Frankreich verbindet. Von beiden Seiten des Kanals werden Stollen vorangetrieben, bis sich die Röhren treffen. Eine spektakuläre Sprengung stellt schließlich die Verbindung her. Die Arbeiter feiern den Erfolg. Wenig später fährt der erste Zug durch die Röhre. Doch dann wird der Traum zum  Albtraum. Zwei Züge rasen aufeinander zu und kollidieren. Die Explosion beschädigt die Tunneldecke, Wasser dringt ein. 

In diesem Augenblick erwachen die beiden Regenten schweißgebadet. Als dann auch noch ein Ingenieur erscheint und ihnen einen tatsächlichen Plan für einen Kanaltunnel präsentiert, verlieren sie die Fassung. Allerdings nur in dem Film „Le Tunnel sous La Manche ou Le Cauchemar franco-anglais“ von Georges Méliès, einem Pionier der Filmgeschichte.   

So utopisch der Film auch anmuten mag, er basiert dennoch auf einem realen Treffen. Vom 25. bis zum 27. März 1802 verhandeln nämlich Napoléon Bonaparte und der britische Außenpolitiker Charles James Fox in Amiens über einen Frieden zwischen Frankreich und Großbritannien. Die Gespräche sind schwierig, doch dann sorgt ein Vorschlag von Albert Mathieu-Favier für strahlende Gesichter. Der französische Bergbauingenieur arbeitet seit 1798 an dem ehrgeizigen Plan, einen Tunnel unter dem Kanal zu bauen. Napoléon und Fox sind begeistert. Könnte das die Lösung des Zwists zwischen den beiden Nationen sein?

Die Idee ist indes nicht neu. Sie wurde 1751 erstmals vom französischen Geologen Nicolas Desmarest öffentlich formuliert. Doch erst Mathieu-Favier konkretisiert das Vorhaben. Von Dover und Calais aus sollen Tunnelröhren unter dem Kanal hindurch gegraben werden und sich in der Mitte treffen. Dort liegt die Varne-Sandbank, die zur künstlichen Insel aufgeschüttet werden soll. Während ein Leuchtturm für navigatorische Sicherheit sorgt, können über einen vertikalen Zugang die Pferde gewechselt werden. Unzählige Öllampen sind vorgesehen, um den Tunnel zu illuminieren. Mächtige Lüftungs­kamine, die aus dem Wasser ragen, sollen für Frischluft sorgen. Nur fünf Stunden, so der Plan, soll die Passage dauern.

Doch der so mühsam ausgehandelte Friede von Amiens hält nur ein gutes Jahr, während sich Mathieu-Faviers Plan als technisch undurchführbar erweist. Vor allem die riesigen Kamine liegen weit außerhalb der damaligen Möglichkeiten. Das gilt auch für den Plan des englischen Ingenieurs Henry Mottray, der keinen Tunnel graben, sondern vorfabrizierte Röhrenelemente versenken will – ein Plan, der ebenfalls undurchführbar ist. 

Als besonders hartnäckig erweist sich der französische Bergbauingenieur und Offizier Aimé Thomé de Gamond. Fast 30  Jahre lang befasst er sich mit dem Tunnelprojekt, das vor allem der Völkerverständigung dienen soll. Seinen ersten Vorschlag, der auf dem Plan von Mottray basiert, präsentiert er 1834: ein versenkbarer Stahltunnel, dessen Elemente sich wie ein Teleskop auseinanderziehen lassen. 

Um die Beschaffenheit des Meeres­bodens zu ermitteln, unternimmt er lebensgefährliche Tauchgänge, ohne jede Taucherausrüstung, nur mit Gewichten beschwert. Noch dazu attackieren ihn riesige Meeraale. Als er 1867 seine neuesten Pläne Napoléon III. und Queen Victoria unterbreitet, berichtet er erschöpft: „Ich habe meine Studien bis an die Grenzen meiner persönlichen Kräfte geführt. Diese Arbeit muss nun von anderen intelligenten Menschen übernommen werden, die in der Psychologie von Gesteinen und in der Bearbeitung unterirdischer Schichten gut bewandert sind.“ De Gamonds Ansicht nach ist die Eisenbahn das ideale Fahrzeug für eine zweigleisige, 33 Kilo­meter lange Tunnelröhre. Die beiden Herrscher sind begeistert, wieder einmal. Doch erneut stehen nationale Vorbehalte einer Realisierung im Weg – obwohl die an Seekrankheit leidende Queen Victoria die Idee positiv beurteilt. 

Dessen ungeachtet macht sich nun der englische Ingenieur Sir John Hawk­shaw daran, de Gamonds Plan doch noch umzusetzen. Zunächst ermittelt er ab 1865, ob der Untergrund geeignet ist. „Wir bohrten uns durch die Kreide an der französischen Küste und an der englischen Küste. Mittels einer Dampfmaschine und eines geeigneten Apparats untersuchten wir den Boden von einer Seite zur anderen, um die Dicke der Kreide festzustellen und deren Kontinuität über dem Kanal.“

Hawkshaw kommt zum Ergebnis, dass es sich letztendlich um ein rein „inge­nieur­technisches Problem“ handelt, ein Tunnel also realisierbar wäre. Als Sir Edward William Watkin davon erfährt, Vorsitzender gleich mehrerer Eisenbahngesellschaften, ist er Feuer und Flamme. Vor seinem geistigen Auge entsteht ein Eisenbahnnetz, das bis nach Paris reicht. Natürlich mit ihm als Chef. 

Um das Ziel zu erreichen, gründet er 1872 die französisch-britische Sub­marine Railway Company und sichert sich die Baugenehmigung. Watkin findet Partner und Geldgeber. Außerdem befasst er sich penibel mit der Streckenführung. Nichts überlässt er dem Zufall. Sogar Versuchs­stollen lässt er 1881 graben, 1800 Meter auf französischer, 1400 auf englischer ­Seite, jeweils unter dem Meeresgrund. 

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mare No. 156

mare No. 156Februar / März 2023

Von Bernd Flessner

Mit Tunneln kennt sich Bernd Flessner, Jahrgang 1957, Autor in Erlangen, gut aus. Im mare-Sonderheft „Hamburg“ schrieb er bereits über den Alten Elbtunnel, ein anderes Juwel der Technikgeschichte.

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