Trügerische Paradiese

Künstliche Riffe, die sich auf Abfall und Schrott bilden, halten nicht, was sich manche Experten von ihnen versprechen

Korallenriffe gehören zu den artenreichsten Ökosystemen der Erde. Rund ein Viertel aller marinen Tierarten sind in den Riffen beheimatet, und die Vielfalt an Wirbeltieren übertrifft möglicherweise noch die der tropischen Regenwälder. Inmitten nährsalzarmer, tropischer und subtropischer Meere gelegen, stellen die Riffe Oasen höchster mariner Fruchtbarkeit dar.

Entsprechend bedeutend sind die Riffe für das gesamte Ökosystem Meer. Nicht nur Riffische, auch Freiwasser- und wandernde Arten wie Thunfische und Makrelen nutzen sie zur Nahrungssuche oder Fortpflanzung. Jungtiere finden Schutz zwischen den Korallen und einen reich gedeckten Tisch für ihre Entwicklung. Delphine, Haie, Schildkröten und Seevögel profitieren von der ergiebigen Fischproduktion. Und Wellenbrechern gleich schützen sie als Saum- und Barriereriffe die Ökosysteme der Küsten wie Mangrovenwälder und Salzwiesen und beugen der Küstenerosion vor.

Doch auch für Millionen Menschen – vor allem in südlichen Entwicklungsländern – sichern die Riffe das tägliche Überleben. Und doch tragen fatalerweise gerade diejenigen, die direkt von den Riffen abhängig sind, zu ihrer weltweiten Zerstörung bei.

Die Malediven beispielsweise liegen teils nur einen Meter über dem Meeresspiegel, gegen die Gewalten des Meeres geschützt durch einen Ring von Riffen. Und dennoch wurden in den vergangenen Jahren ganze Riffe gesprengt, um billiges Baumaterial für Hafen- und Hotelbau zu gewinnen. Ein doppelt riskantes Unterfangen: nicht nur, dass die Deviseneinnahmen des Inselstaates vor allem von den Tauchurlaubern kommen; gerade im Hinblick auf die globale Klimaerwärmung und Prognosen eines steigenden Meeresspiegels stellt der Abbau der schützenden Riffsäume ein ernstes Problem dar. Der Bau der als Ersatz errichteten künstlichen Schutzanlagen verschlingt 12,5 Millionen US-Dollar je Küstenkilometer.

Wirtschaftliche Bedeutung besitzen die Riffe auch in vielen karibischen Staaten und in Florida, wo allein jährlich 1,6 Millionen Dollar durch den Tauchtourismus umgesetzt werden. Vom Erhalt der Unterwasserrefugien abhängig, werden gleichwohl auch dort Riffe durch Abwassereinleitung, Küstenbau und Sammeln von „Tauchsouvenirs“ zerstört.

Noch gravierender ist das Problem der Überfischung der Riffe, aus denen in südlichen Ländern 20 bis 25 Prozent des Fischfangs stammt. Traditionell war der Fischfang in den Riffen extensiv, feste Schonzeiten wurden von den mit ihren Fanggründen vertrauten Fischern eingehalten. Doch internationale Märkte, moderne Fangmethoden und eine wachsende Zahl von Fischerbooten machten aus der Selbstversorgungswirtschaft eine Exportbranche. Die hohe Artenvielfalt und Komplexität der Nahrungsketten im Riff ließen die Überfischung jedoch erst spät erkennen.

Inzwischen, so das Fazit des internationalen Korallen-Symposiums in Panama 1996, sind weltweit zehn Prozent aller Riffe unrettbar geschädigt, weitere 30 Prozent würden die nächsten zwanzig Jahre nicht überleben, falls ihre Zerstörung nicht umgehend aufgehalten wird. Beispiellos ist der Verlust vor der philippinischen Küste: Ein Drittel der Korallenriffe ist bereits völlig vernichtet, nur noch fünf Prozent können als intakt angesehen werden.

Dabei sind gerade die philippinischen Riffe die artenreichsten. Von weltweit 1200 kommen 700 riffbildende Korallenarten hier vor. Ein einzelnes philippinisches Riff ist Lebensraum für 3000 verschiedene Tier- und Pflanzenarten. Mit rund 80 Prozent Weltmarktanteil sind die Philippinen Marktführer im Export von Zierfischen – einem für die Riffe mehr als zweifelhaften Gewerbe. Denn zwei Drittel aller lebend gehandelten Korallenfische für den Aquariumsbedarf werden mit Natriumzyanid gefangen, das die Fischer in die Spalten der Riffe ausbringen und das sich im Meerwasser in giftige Blausäure umsetzt. Die betäubten Fische können so leicht eingesammelt werden. Auch wenn bis zu 75 Prozent der Fische schon beim Fang verenden und die Hälfte der lebend geborgenen Tiere während des Transportes: mit circa 25 000 Tonnen und einem Marktwert von rund einer Milliarde Dollar ein lukratives Geschäft – zurück bleiben die vergifteten Korallen und andere Weich- und Krustentiere.

Weiter gefördert wird die philippinische Zyanidfischerei durch die wachsende, junge High-Society in Hongkong, Singapur und Taiwan: In den dortigen Nobelrestaurants werden lebende Zackenbarsche und Lippfische feilgeboten – ein bis zu zwei Meter langer Napoleon-Lippfisch, der größte Riffbewohner des Indopazifik, bringt immerhin mehrere tausend Dollar. Und auch im Verkauf von Muschel- und Schneckengehäusen, die tonnenweise aus den Riffs gesammelt werden, halten die Philippinen einen Marktanteil von 90 Prozent.

Als Antwort auf zurückgehende Fischereierträge und geschädigte Riffe kamen die sogenannten „künstlichen Riffe“ ins Gespräch. Generell sind künstliche Riffe eine „Ansammlung fester Strukturen, die ins aquatische System ausgebracht werden, um Fischreviere zu erschaffen oder zu verbessern“. Dass bei dieser Definition der Schwerpunkt auf der Fischerei liegt und kein Wort über Ökologie verloren wird, spiegelt das Verständnis derjenigen wider, die ihren Einsatz propagieren – und sie „bauen“.

Fischer wissen seit jeher, dass sich Fische gerne in Spalten und Verstecken aufhalten – auch in solchen aus Menschenhand. Aus der traditionellen Fischerei Japans sind seit dem 18. Jahrhundert erste künstliche Riffe überliefert: zu kleinen Pyramiden gebundene Bambus- oder Holzstäbe, die, im flachen Küstenmeer versenkt, Fische anziehen und die Fischereierträge erhöhen. Sie sind ökologisch relativ unbedenklich, denn die an ihnen betriebene Fischerei ist extensiv, und die aus natürlichem Material gebauten „Riffe“ zerfallen nach wenigen Jahren.

Ein ähnliches Prinzip wurde bereits 1860 im amerikanischen South Carolina angewandt: Kleine, dachlose Hütten von etwa drei Metern Höhe aus Eiche oder Kiefer wurden in den Flussmündungen versenkt. Nach dem Ansiedeln von Seepocken und anderem Bewuchs stellten sich auch Fische in größerer Zahl ein. Von 1916 bis 1938 wurden, vor allem von lokalen Fischereivereinen, immer zahlreichere dieser künstlichen Riffe an den amerikanischen Küsten ausgebracht, um Tauch- und Angeltouristen mit möglichst wenig Aufwand und kurzen Wegen an Gründe reichen Unterwasserlebens bringen zu können.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte man in den USA, dass künstliche Riffe eine einfache und kostensparende Methode darstellen, lästigen Abfall unter dem Deckmantel ökologischen Handelns zu entsorgen. So entstand 1950 das McAllister-Riff vor Long Island aus dem Bauschutt Manhattans und 1953 das Schaefer Beer Case Reef vor New York aus 14 000 mit Beton gefüllten Bierkästen. Angefacht von Berichten erhöhter Fischbestände wurden in den folgenden Jahren allerlei Überreste menschlicher Zivilisation dem Meer als „künstliche Riffe“ übergeben: Autos, Straßenbahnwagen, ausgediente Panzer, alte Schiffe, 1994 gar eine komplette Boeing 727 vor der Küste von Miami. Vor Südengland wurden künstliche Riffe aus giftiger Flugasche der Kohlekraftwerke aufgeschüttet. Seit Anfang der siebziger Jahre ließ die amerikanische Firma Goodyear mit großen Forschungsprogrammen untersuchen, wie ihre alljährlich anfallenden 220 Millionen Altreifen als künstliche Riffe entsorgt werden können. 1972 entstand vor Fort Lauderdale in Florida das Osborne Reef, mit rund zwei Millionen Altreifen wahrscheinlich das größte seiner Art. Im Golf von Mexiko wurden seit 1987 insgesamt 90 Ölbohrinseln in Tiefen von 30 bis 100 Metern versenkt – und unter dem Programm „Riggs for Reefs“ als „Natur aus zweiter Hand“ gefeiert.

Gegen Ende der siebziger Jahre standen allein in Florida 185 natürlichen 173 künstliche Riffe gegenüber, davon etwa zehn Prozent aus Reifen, 15 Prozent aus Betonblöcken, 30 Prozent aus versenkten Schiffen und 45 Prozent „gemischte“ – aber nicht minder menschengemachte. Heute sind es mehr als 500 künstliche Riffe, und der Aufbau geht mit einem Aufwand von etwa einer Million Dollar jährlich weiter.


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mare No. 5

No. 5Dezember / Januar 1997

Von Frank Jochem

Frank J. Jochem, Jahrgang 1961, ist promovierter Meeresökologe. Während seiner zwölfjährigen wissenschaftlichen Arbeit am Institut für Meereskunde in Kiel befasste er sich auch intensiv mit Nahrungsnetzstrukturen tropischer Ozeane. Seit April 1997 ist er Autor und Wissenschaftsredakteur bei mare.

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Vita Frank J. Jochem, Jahrgang 1961, ist promovierter Meeresökologe. Während seiner zwölfjährigen wissenschaftlichen Arbeit am Institut für Meereskunde in Kiel befasste er sich auch intensiv mit Nahrungsnetzstrukturen tropischer Ozeane. Seit April 1997 ist er Autor und Wissenschaftsredakteur bei mare.
Person Von Frank Jochem
Vita Frank J. Jochem, Jahrgang 1961, ist promovierter Meeresökologe. Während seiner zwölfjährigen wissenschaftlichen Arbeit am Institut für Meereskunde in Kiel befasste er sich auch intensiv mit Nahrungsnetzstrukturen tropischer Ozeane. Seit April 1997 ist er Autor und Wissenschaftsredakteur bei mare.
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