Tropenmeer im Bonsai-Format

In Japan zeigen künstliche Strandparadiese die Tourismus-Vision des nächsten Jahrtausends. Eine Reportage

Der Himmel endet 36 Meter über Herrn Kobayashis Scheitel. Besser gesagt: der Metallzenit des „Ocean Dome“, der die Meeresbucht mit ihrem leuchtenden Kieselsand überspannt. Feucht, aber korrekt klebt Herr Kobayashis shichi-san-Frisur am Kopf: fein säuberlich im Standardverhältnis 7 (shichi) zu 3 (san) geteilt. Herr Kobayashi ist Geschäftsmann. Nicht nur mit dem Scheitel nehmen es Japans Geschäftsmänner genau. Im „Ocean Dome“, dem größten überdachten Strandparadies der kommerziellen Welt, herrscht allenthalben Präzision.

Konstant 30 Grad heiß brütet der kasernierte Karibiksommer unter der gigantischen Kuppelhalle, genügend Stellfläche für ein halbes Dutzend Jumbos. Endlos währt hier die tropische Saison ebenso wie die Wassertemperatur von 28 Grad. Rollbare Bananenstauden in Lutschergrün schlappen in der ersterbenden Zugluft eines Klimaschachts, und unmerklich benebelt die chlorierte Schwüle das Gedächtnis. Kaum was dagegen zu machen. Mizuki staunt.

Längst hat Herr Kobayashis zehnjährige Tochter vergessen, dass sie eben noch im Frühlingslicht die ersten Kirschblüten aufplatzen sah. Die zarte Pracht dort draußen verblasst wie ein Abziehbild. Der Sog des inszenierten Ozeans nimmt Mizuki gefangen. Sie ist neugierig auf Golden Island, den seltsam braunen Glasfiberfelsen hinten am Horizont. Verschwunden ist die skeptische Flunsch aus ihrem Kindergesicht, die Sandbucht der Great Bank lockt. Auf ihrer knallengen Badekappe sitzt – trendy – die dunkle Chlorbrille. Im Ultrastretch wirkt sie wie eine futuristische Modepuppe. Abermals sind 15 Minuten in der Zeitlosigkeit versickert. Nirgendwo Uhren. Archaisches Vulkangrollen samt Feuerschein und Rauchschwaden kündigt den Auftritt der herübergejetteten Steelband aus Trinidad an. Herr Kobayashi kaut Sushi-Happen wie schon Jahrhunderte zuvor die Samurai im kaiserlichen Edo und schaut matt der wirbelnden Performance zu. Und gerät dabei unwillkürlich in Trance – Markenzeichen des Ferienkonzerns Seagaia.

„Ich habe Geschäftsleute im ,Ocean Dome‘ eindösen sehen: glücklich wie kleine Kinder“, sagt die zierliche Megumi Wada mit einer noch zierlicheren Stimme. „Auch die Älteren kommen hier aus sich heraus, keine Etikette mehr – einfach happy!“ Ihre Arme fliegen empor, die Leute schütteln offenbar alle Konventionen ab. Normalerweise nimmt Megumis suggestiver Lautsprecher-Singsang die Badegäste akustisch an die Hand und geleitet sie von Event zu Event. Von der „Fiesta do Sol“ zur „Carribean Live Show“, vom Auftritt tapsiger Schaumgummipuppen hin zum Erntedankfest am Fuße des Mount Balihai. Karneval im ewigen Rauschen maßgeschneiderter Wasserfälle.

Firmenpräsident Kobayashi klopft tranig die Rhythmen des Ethnopop mit. Glaubt man den Visitenkarten, die überall in Japan mit ritueller Hingabe ausgetauscht werden, so ist das Inselreich von lauter Firmenpräsidenten bevölkert. Und sei es der einer winzigen Firma für Schaufensterspeisen aus Wachs wie Herr Kobayashi. Möchte ein japanischer Workoholic nicht den ehrenvollen Tod am Arbeitsplatz sterben, den Karoshi, gönnt er sich vielleicht von Jahr zu Jahr einen Entspannungsurlaub am Meer. Für ein, zwei Tage. Länger bleiben die meisten Familienväter nicht, die ohnehin nur wegen ihrer Söhne und Töchter am Strand des „Ocean Dome“ sitzen und das Naturerlebnis oft leidenschaftlich mit dem Camcorder dokumentieren.

Faulenzen ist noch immer unüblich in Japan, insbesondere beim Erholen. Rund 90 Prozent der inzwischen über 5 Millionen „Ocean Dome“-Besucher sind Japaner, die anderen kommen aus Hongkong, Taiwan. Und auch Südkorea, in steigender Zahl. Was Wunder, liegt doch Seoul näher als Tokio an der südjapanischen Insel Kyushu, wo in mediterranem Klima nahe der Stadt Miyazaki seit fünf Jahren die Meereskathedrale aufragt.

Ostasiatische Reisegruppen haken während der üblichen „Package-Tour“ durch Kyushu die Sehenswürdigkeiten mitunter an einem Tag ab: Morgens „Ocean Dome“, dann Besuch des 800 Jahre alten Fukiji-Holztempels bei Oita, bevor es zur originalgetreuen Kopie des Dresdner Zwingers in Saga geht; am Nachmittag Weltraumabenteuer im Themenpark „Space World“ von Yahata bestehen und zum Abschluss das Wunschgebet für Shintoisten im Udo-Schrein an der Südküste. Alles pauschal.

Wer zum Beispiel aus den pazifischen Megastädten Osaka oder Tokio Richtung Kunstozean von Seagaia aufbricht, erblickt aus dem startenden Flugzeug die zeitgenössischen Inkarnationen der 800 mal 1000 Geister des Shintoismus: planloses Nebeneinander unterschiedlichster Architekturen. Dichtgedrängt. Gehören in Japans animistischer Nationalreligion Bäume, Berge, Flüsse, Ahnen, ja sogar der hochverehrte Bakteriologe Robert Koch zum Sammelsurium unzähliger Gottheiten, so spiegeln die Metropolen das geordnete Chaos des Shinto-Universums in gegensätzlichen Bauwerken wieder. Häuschen im klassischen Irimoya-Stil umwuseln kristallene Riesentower. Über still geschwungenen Pagodendächern kreischt turmhoch die Leuchtfassade von Fuji Color. Moderne Monstrosität wird immer wieder durch traditionelle Kleinteiligkeit aufgeweicht. Nachgemachte Eiffeltürme, geschrumpfte Freiheitsstatuen – Zusammengeklaubtes koexistiert ganz selbstverständlich mit Althergebrachtem. Widersprüchliches lebt Seite an Seite. Wie die zahllosen Shinto-Geister. Womöglich wurzelt hierin die unglaubliche Assimilationskraft Japans, die Fremdes und Neues stets einzuverleiben wusste.

Neuankömmlinge aus der Luft erblicken den „Ocean Dome“ schon lange vor der Landung. Eingerahmt von Küstenwald. Die 300 Meter lange Strandkuppel neben dem Monolithen des Hotels „Ocean 45“ wirkt wie eine extravagante, zu groß geratene Kirche. Der Besuchermagnet.

Andächtig schwebt man auf der Rolltreppe ins Portal ein, das uniformierte Personal verneigt sich. Drinnen treiben reglos Schäfchenwolken über dem Horizont. Das Meer endet an der Leinwand. Malerischer Schein. Der Ozean als Pool. Abgestufter Grund von Hellgrün nach Dunkelblau schafft das ersehnte Lagunentürkis und führt turbofix in die „Tiefsee“. Eine Handvoll Touristen dümpelt in bauchigen, pinkblauen Schwimmringen umher, ihre Arme hängen wie Staubgefäße ins Wasser – schlaffe Blüten. Gut, dass es erst Frühling ist. Denn in der Hochsaison bevölkern bis zu 10000 Urlauber den Sand des Strandes: aus China importiertes Marmorgranulat, auf das eigentlich nie die Sonne scheint. Nur wenn es nicht regnet und die Windgeschwindigkeit unter fünf Meter pro Sekunde sinkt, wird im Sommer aus dem „Ocean Dome“ ein offenes Cabriolet. Dann wird das Verdeck zurückgefahren. Allerdings höchstens für eine Stunde . Mehr Sonnenschein muten die Macher von Seagaia ihrer Klientel nicht zu. „Die japanischen Frauen lieben helle Haut“, erklärt Vizepräsident Koichi Urabe und faltet seine manikürten Hände. Durch den glatten Teint scheint Herr Urabe fast alterslos. Schon vor einem Vierteljahrhundert begann der Seagaia-Veteran in die Geschicke des Unternehmens einzugreifen, lange bevor die Meerreise ohne Wetter das Angebot ergänzte. Warum auch zu viel Wind und Sonne hereinlassen, gilt doch bei Seagaia der Slogan: Wir sind besser als die Natur!

Problemlos kommen Japaner ohne den Hyperrealismus à la Hollywood aus, um sich einer Naturillusion hinzugeben. Das abgeschnittene Firmament des „Ocean Dome“ beweist es. Niemanden stört die krasse Linie zwischen gepinseltem Azur und gräulicher Kuppel. Man blendet aus. Wie im Kabuki-Theater, wo japanische Zuschauer den Kuroko, den maskierten Bühnenhelfer inmitten der Schauspieler, einfach nicht wahrnehmen.

Überhaupt bestimmt ein für das europäische Auge seltsam verkappter Stilismus das Strandambiente des „Ocean Dome“. Zum Beispiel Golden Island, der merkwürdige Inselpfropfen, den eine Palme krönt, und daneben die zweite, perspektivisch verkleinerte Insel Gem. Irgendwie kommt einem das bekannt vor. Vielleicht als exotische Variante traditioneller Tuschezeichnungen: Kiefer auf Felsen im Meer. Eine Reminiszenz? Kollektive Erinnerung? Tatsächlich greift die Vergnügungsküste des „Ocean Dome“ wesentliche Elemente der uralten Gartenkunst Japans auf: Hügel, Brücken, Flüsse, Wasserfälle, den „großen Teich“ – und eben Steininseln. „Stimmt, die Technik zurückversetzter Inseln wird im japanischen Garten angewandt, um Ferne zu suggerieren“, bestätigt Vizepräsident Urabe. „Aber als der Gestalter uns damals seine Landschaftsentwürfe vorlegte, hat niemand bewusst an eine Anlehnung gedacht.“ Und unbewusst? Seit der Buddhismus im 6. Jahrhundert nach Japan gelangte, symbolisieren die traditionellen Gärten Landschaften. Vor allem will die buddhistisch geprägte Gartenkunst den Gedanken wachhalten an den mythischen Berg Sumeru, umspült vom Urozean mit seinen neun Inseln. Kontemplativer Höhepunkt dieser tiefen Neigung zur Miniatur: die von Zen-Mönchen in den Sand geharkten Meereswellen der Steingärten in Kyoto oder Kamakura.


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mare No. 8

No. 8Juni / Juli 1998

Von Thomas Worm

mare-Redakteur Thomas Worm legte auf seiner Japan-Reise den langen Weg von der Transpiration zur Inspiration zurück.

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Vita mare-Redakteur Thomas Worm legte auf seiner Japan-Reise den langen Weg von der Transpiration zur Inspiration zurück.
Person Von Thomas Worm
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