Titos Gulag

Auf der kroatischen Adriainsel Goli Otok ließ Jugoslawiens Diktator 1949 ein Um­erziehungslager für politisch Missliebige errichten. Tausende starben hier durch Folter und Misshandlung

Beim Morgengrauen öffnete sich der Laderaum des Schiffes ‚Punat‘. Von draußen hörte man Schreie. ‚Uaaaaa bandaaa‘, nieder mit den Banditen. ‚Doleee izdainiciii‘, nieder mit den Verrätern. Plötzlich stand eine Gruppe Menschen an Bord des Schiffes, die begannen, wie wild auf uns einzudreschen. Alles floh zu der Treppe, die nach oben auf Deck führte. Uns bot sich ein schreckliches Bild: zwei endlos lange Schlangen von Menschen, die sich vom Ufer auf eine Reihe von Baracken zubewegte. Das war der stroj, der Weg: der Willkommensgruß auf der Insel der Verdammten! Es war ein Spießrutenlauf. Wir mussten an zwei Reihen Männern vorbei, die mit Fäusten auf uns einprügelten, uns traten, bis unsere Gesichter bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen waren. Niemand schaffte es bis zum Ende der Reihe: Nach spätestens 20 oder 30 Metern ging auch der Letzte, von den Schlägen niedergestreckt, zu Boden.

Was mich am meisten verblüffte, war, dass es keine Soldaten waren, die uns schlugen, sondern die Insassen des Lagers selbst, die den Aufsehern des Lagers beweisen sollten, dass ihre ‚Umerziehung‘ vollzogen war: Gefangene, die zu Peinigern anderer Gefangener wurden! Die Agenten der UDBA [der jugoslawischen Geheimpolizei, Anm. d. Red] standen in zweiter Reihe dahinter und kontrollierten, dass mit genügend Brutalität geschlagen wurde. Und wenn nicht? Dann musste man sich den Neuen anschließen und wurde wie sie geschlagen. Jedes Mal, wenn eine neue Gruppe Häftlinge auf der Insel ankam, wurde der stroj gebildet. Und auch ich, wie alle anderen, nahm daran teil und prügelte die Neuankömmlinge, nur um selbst nicht mehr diese Qual erleiden zu müssen.“ (Sergio Borme, 1948 nach Goli Otok deportiert)

Es gibt Orte, für die die Erinnerung keine Gedenktafel braucht, Orte, an denen irgendwann vor langer Zeit einmal etwas geschehen ist; Mauern, die nicht anders können als schweigen, Orte, an denen uns die Steine, wenn sie eine Stimme hätten, ihre Geschichte erzählen könnten. Eine Geschichte, die an dir haften bleibt wie salzige Meerluft, wie etwas, das in dir steckt und das du nicht schlucken kannst. Und auch wenn der Regen nach so vielen Jahren das Blut von den Steinen gewaschen hat, sind sie immer noch irgendwo in diesen Gemäuern, die stummen Worte, die darauf warten, gehört zu werden.

Einer dieser Orte liegt vor der Küste Norddalmatiens, ein Felsen im Mittelmeer, der mit furchteinflößender Schönheit wie eine natürliche Festung aus dem Wasser ragt. Er heißt auf Kroatisch Goli Otok (Nackte Insel) und beherbergte zwischen 1949 und 1988 eines der schrecklichsten Gefängnisse Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf diesem kargen, steinigen Eiland ließ der kommunistische Diktator Josip Broz Tito nicht nur seine politischen Gegner einsperren, sondern jeden, der im Verdacht stand, ein solcher zu sein: unter ihnen eine große Anzahl seiner früheren treuen Mitstreiter, Offiziere, Generäle, ehemalige Partisanen; später 90 Prozent der Intelligenzija einer ganzen Nation, Studenten, Intellektuelle, Journalisten, Professoren, Schriftsteller.

Im Juni 1948 spitzte sich die Situation mit dem Ausschluss Jugoslawiens aus der Kominform (des Bündnisses kommunistischer Parteien in Europa) und damit dem „Bruch“ Jugoslawiens mit Russland dramatisch zu. Danach bildeten sich in Jugoslawien sofort zwei entgegengesetzte Lager: die Kommunisten, die sich mit Tito solidarisierten, und diejenigen, die der politischen Linie des Kreml noch treu ergeben waren. Für die Dissidenten kamen die Repressionen urplötzlich und zerstörten von einem Tag auf den anderen Leben und Familien. Es war Aufgabe der UDBA, diejenigen aufzuspüren und zur Rechenschaft zu ziehen, die als nicht konform mit dem Regime galten, und sie als „Feinde des Volkes“ abzustempeln, selbst Menschen, die nur einige Worte zu viel gesagt – was man als „Verbalverbrechen“ bezeichnete – oder in der Öffentlichkeit zu viele Fragen gestellt hatten. Viele andere hingegen erfuhren überhaupt nie den Grund für ihre Verurteilung. Nach der Denunziation eines Genossen und einem Scheinprozess öffneten sich für alle „Kominform-Verräter“ die Tore zu den sogenannten Umerziehungslagern.

Waren es in den ersten Jahren vor allem Stalinisten, die auf die Insel geschickt wurden, kamen später auch Regimegegner aller Art zur Umerziehung hierher: Sozialdemokraten, Nationalisten, Monarchisten, westlich Orientierte und ab Mitte der 1960er-Jahre auch gewöhnliche Kriminelle. 1988 wurde das Gefängnis geschlossen, die Anlagen verfallen seitdem. Bis heute weht über das Straflager auf Goli Otok, von dessen Existenz bis vor wenigen Jahren kaum jemand wusste oder wissen wollte, so beharrlich die Bora, dass durch die entstehende Salzkruste zwischen den Ruinen der Gefängnisse und Bunker, in denen Gefangene aller Ethnien festgehalten wurden, nichts wachsen kann. Dank genauer Nachforschungen durch eine Kommission der kroatischen Vereinigung ehemaliger Deportierter namens „Ante Zemljar“ wissen wir heute, dass mindestens 16 000 Menschen hier grausamste Misshandlungen über sich ergehen lassen mussten und 446 Personen an den Folgen dieser „Umerziehung“ starben. Die weiblichen Gefangenen wurden in ein Straflager auf der Nachbarinsel Sveti Grgur gebracht, wo sie Steine sinnlos von einem Ort zum anderen schleppen mussten. Ein großer Tito-Stern ist so entstanden, der noch heute auf Satellitenbildern erkennbar ist.

Aus dem Italienischen von Judith Schwaab


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mare No. 127

April / Mai 2018

Von Simone Cristicchi und Giovanni Cocco

Simone Cristicchi, Jahrgang 1977, ist ein italienischer Autor, Singer-Songwriter und Theaterschauspieler in Rom. Er las das Buch von Giacomo Scotti über Goli Otok und kam so auf die Idee zu dieser Geschichte.

Giovanni Coccoi, geboren 1973, lebt als Fotograf in Rom. Er und Cristicchi mieteten in Sveti Juraj eine Yacht, um nach Goli Otok zu segeln und sich das alte Straflager anzuschauen.

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Vita Simone Cristicchi, Jahrgang 1977, ist ein italienischer Autor, Singer-Songwriter und Theaterschauspieler in Rom. Er las das Buch von Giacomo Scotti über Goli Otok und kam so auf die Idee zu dieser Geschichte.

Giovanni Coccoi, geboren 1973, lebt als Fotograf in Rom. Er und Cristicchi mieteten in Sveti Juraj eine Yacht, um nach Goli Otok zu segeln und sich das alte Straflager anzuschauen.
Person Von Simone Cristicchi und Giovanni Cocco
Vita Simone Cristicchi, Jahrgang 1977, ist ein italienischer Autor, Singer-Songwriter und Theaterschauspieler in Rom. Er las das Buch von Giacomo Scotti über Goli Otok und kam so auf die Idee zu dieser Geschichte.

Giovanni Coccoi, geboren 1973, lebt als Fotograf in Rom. Er und Cristicchi mieteten in Sveti Juraj eine Yacht, um nach Goli Otok zu segeln und sich das alte Straflager anzuschauen.
Person Von Simone Cristicchi und Giovanni Cocco