Tiefgang

mare fragte zehn weltbekannte Unterwasserfotografen nach ihrem liebsten Bild. Sie lieferten Fotos – und abenteuerliche Geschichten

Bill Curtsinger, Antarktis

„Als Innerer Raum wird die Unterwasserwelt oft bezeichnet; dieses Bild repräsentiert für mich den Begriff. Wer unter dem Antarktischen Eis taucht, ist so weit von jeder Hilfe entfernt wie die Astronauten im Weltall. Doch anders als diese spürt Terrie Klinger in ihrem Neoprenanzug die Kälte, sie kann nur mit den Händen kommunizieren, und niemand außer zwei, drei anderen Leuten weiß, dass sie hier ist. Niemand überprüft ihren Herzschlag, ihren Atem. Sie ist eine Biologin, die ihre wissenschaftlichen Versuche ganz alleine macht, und sie muss sich auf ihren eigenen Instinkt und ihr eigenes Training verlassen. Sie bewegt sich in einem Inneren Raum.“


Doug Perrine, Südafrika

„Beim Tauchen beglückt es mich, mir vorzustellen, wie die Welt aussah, bevor die Menschen auf ihr erschienen und alles veränderten. Es gibt nichts Wilderes als den jährlichen Zug der Sardinen vor Südafrika. Hunderte Millionen Sardinen schwimmen die Küste entlang, verfolgt von Delfinen, Haien, Walen und Vögeln, die sich alle an den fetten Fischen ergötzen wollen. In diesem Fall waren es Tausende von Haien, mindestens vier verschiedene Spezies, die mit offenen Mündern durch den Schwarm schwammen. Mir war sofort klar, dass ich die Chance hatte, das Foto meines Lebens zu machen. Andererseits konnte ich auch nicht vergessen, wie ein anderer Fotograf in solch einer Situation kürzlich seinen Arm beinahe im Maul eines Hais verloren hatte. Die Bewegung der Sardinen ließ das Licht blitzen und funkeln, und der Lärm der eintauchenden Seevögel klang für mich wie ein Artilleriefeuer. Erst als ich später das Bild auf dem Bildschirm ansah, war mir klar, dass es ein fressender Hai war, der so nah an mir vorbeigeschossen war.“


Narelle Autio, Sydney

„’Meerjungfrauen’“ ist nach einem Sturm in einer riesigen Meeresdünung entstanden. Zuerst beobachtet man erwartungsvoll, wie sich aus einem kleinen Buckel am Horizont langsam eine Welle bildet, bis sie zu einer enormen Wasserwand wächst, die gegen dich anrollt. Man schaut, lauert, und im richtigen Moment nimmt man einen tiefen Atemzug und taucht ein in eine rasende, wirbelnde, schwerelose Welt, in der man im wahrsten Wortsinn durch das Wasser fliegt. Für gewöhnlich fotografiere ich mit einer einfachen Unterwasserkamera und trage eine Tauchbrille und Flossen. Kurz nachdem ich dieses Bild gemacht hatte, wäre ich beinah für immer als Meerjungfrau in meiner geliebten Wasserwelt geblieben. Ich hatte im falschen Moment zum Sprung angesetzt und geriet mitten in die Druckwelle der niederstürzenden Wassermassen. Die Welle warf mich herum wie eine Puppe, drückte mich auf den Meeresboden, drehte mich kopfüber. Ich wurde ein Teil der Welle – bis sie mich, nach einem halben Leben, wieder entließ, ohne Maske, ohne Flossen. Nur meine Kamera war fest um das Handgelenk gewickelt; sie blieb unbeschädigt.“


Jürgen Freund, Philippinen

„Das Bild mit den turtelnden Sepien fotografierte ich bei Dimakya Island, im Norden Palawans auf den Philippinen, nur wenige Meter vom Ufer entfernt. Mehr als 20 Tintenfische nahmen mich in ihrem Liebesrausch fast nicht wahr. Die männlichen Vielarmer waren so sehr damit beschäftigt, Nebenbuhler abzuwehren, dass sie sogar mich mit einem Konkurrenten verwechselten und zu verscheuchen suchten. Nach der Paarung legten die Weibchen, streng von ihren Männchen bewacht, ihre Eipakete zwischen die Äste eines Korallenstocks.“


Norbert Wu, Antarktis

„Ich schwimme durch einen Raum aus blauem Eis. Eiskristalle bedecken den Boden. Während ich über sie gleite, lösen sich einige und schweben zur Decke. Licht, das durch ein Loch in der Eisdecke fließt, füllt den Raum. Auf dem Meeresboden liegen Hunderte roter und orangefarbener Seesterne, wie Rosenblüten zwischen zersplitterten Kristallleuchtern. Die Sicht ist phänomenal, mehr als 1000 Fuß.“


Christoph Gerigk, Bretagne

„Der Supertanker ‚Amoco Cadiz’ zerbrach und sank am 16. April 1978 vor Portsall in der Bretagne. Es folgte eine ungeheure Umweltkatastrophe, die erste weltweit von den Medien vermittelte ‚marée noire’. Ich selbst war damals knapp 13 Jahre alt, und ich erinnere mich noch genau an die Fernsehbilder der Ölpest. 1997 beschloss ich, eine Reportage vom Ort des Geschehens ‚20 Jahre danach’ zu fotografieren. Die ‚Amoco Cadiz’ ist mit 334 Meter Länge das größte Wrack der Welt und fünf Mal so voluminös wie die ‚Titanic’. Die Wrackstelle ist wegen nicht explodierter Granaten, die das Schiff schneller zerlegen sollten, offiziell für Taucher gesperrt. Auf der schräg liegenden Bordwand wiegt sich heute ein Kelpwald im Rythmus der Wellen. Die Kraft der Natur ist überwältigend.“


Reinhard Dirscherl, Malediven

„Im Frühjahr 1997 tauchte ich auf den Malediven, um Mantas zu fotografieren. Plötzlich entdeckte ich in 25 Meter Tiefe eine große Schirmqualle mit einem Durchmesser von einem Meter. Quallen in dieser Größe hatte ich hier noch nie gesehen. Schnell tauchte ich zu ihr, doch ich war nicht alleine. Eine Karettschildkröte begleitete mich und steuerte ebenfalls direkt auf die Qualle zu. Die Schildkröte war natürlich schneller als ich, und bevor ich das erste Foto von der Qualle schießen konnte, biss das Reptil hinein. Ich positionierte mich direkt unter der fressenden Schildkröte, damit ich die Sonne im Hintergrund mit auf das Bild bekam, und wartete, bis die Schildkröte wieder zuschnappte.“


Monique Walker, Molukken

„Noch nie hatte ich so viele gruselige Wirbellose und skurrile Fische während eines Tauchgangs angetroffen. Einige hatte ich überhaupt noch nie gesehen, und manche kamen mir vor wie Monster mit schrecklichen Fratzen. Gespenstische, riesige Krabben, Schrecken erregende Aale, bis zur Unkenntlichkeit getarnte Krötenfische, grellbunte Geistermuränen und der große, einäugige Heuschreckenkrebs mit seiner von kleinen Krabben belagerten Wohnhöhle. Dieses Erlebnis kam mir bekannt vor. Ja, die Geisterbahn auf dem Jahrmarkt! Haben Sie schon einmal Jahrmarktbesucher beim Aussteigen aus den kleinen Wagen beobachtet? Nach der Höllenfahrt durch die Gruselwelt verlassen sie den Ort langsam und wie in Trance. Geisterbahn, das ist der passende Name für diesen Tauchplatz.“


Mike Severns, Hawaii

„Es ist nicht ungefährlich, den Mantel einer Mördermuschel zu berühren, denn sie sind extrem nervöse Wesen. Es war verblüffend zu sehen, wie sich ein kleiner Barsch gemütlich zwischen die zuckenden, schleimigen Schalen der Mördermuschel schmiegte. Wie unter einer komfortablen Decke erschien er mir, und fast war ich in meinem Tauchanzug mit der riesigen, sperrigen Kamera ein wenig neidisch auf den sorglosen Anthias. Immer mehr Fische schwammen herbei und kuschelten sich an das Innere der Muschel. Sie starrten mich 36 Blitzlichter lang ungerührt an und verharrten in ihrem schützenden Raum.“


Jeff Rotman, Rotes Meer

„Mit diesem Bild gewann ich den ‚BBC Underwater Photographer of the Year Award’. Seit ich das Foto 1994 gemacht hatte, ist es ein Favorit: Es erzählt so viel über das Zusammenleben im Meer. Hier geht es um die Beziehung zwischen einer Garnele, die in den giftigen Tentakeln einer Anemone lebt und für diesen Schutz der Anemone im Gegenzug ihre Hilfe als Putzer anbietet. Weil der Ausschnitt nur fünf mal acht Zentimeter groß ist, betrachte ich ihn wie die Garnele: als eine ganze, eigene Welt.“


Alexis Rosenfeld, Bahamas

„Eine Sandbank in zehn Meter Tiefe vor den Bahamas. Dieses Bild hat für mich symbolischen Wert: Delfine scheinen so freundliche Tiere zu sein, dass sie einander sogar küssen. Und dann ist da die Schönheit der Gesamtform – wie ein Yin-und-Yang-Zeichen, das am Computer erzeugt wurde. Wir waren für eine Woche dort, auf einer Expedition mit amerikanischen Delfinforschern. Aber keine Delfine die ganze Woche, schlechte Stimmung an Bord. Am letzten Tag dann kamen die Delfine und spielten eine Stunde lang mit uns. Ich machte dieses Bild, und die Reise war gerettet.“


David Doubilet, Palau

„Die Chandelier Höhle im Archipel von Palau ist die perfekte Höhle für einen Unterwasserfotografen. Der Eingang ist seicht und gut sichtbar, eigentlich unscheinbar. Innen dann aber die Überraschung: Stalaktiten. Wir ankerten das Boot bei der Höhle und ließen Filmlichter ins Wasser hinunter. Diese Scheinwerfer produzieren 1200 Watt starkes, kaltes Licht. Ich tauchte in die Höhle und befestigte die Lampen in Nischen. Als wir das Licht einschalteten, sahen wir ein Universum aus Licht und Schatten. Mir schien, als tauchte ich in einem Traum. Die Stalaktiten waren enorme Zähne und der Schatten des Tauchers ein Gigant. Ich schwamm durch eine Fantasie.“


Kurt Amsler, Kolumbien

„Malpello Island, ein Felsen 500 Kilometer westlich von Kolumbien im Pazifik. Die Bedingungen hier sind extrem: kein Ankerplatz, lästiger Wind, raue See, starke Strömung und schlechte Sicht. Das aber muss in Kauf genommen werden, um Hammerhaie in so großer Zahl vor die Kamera zu bekommen. In diesem Bild stecken zehn Tage und 30 Tauchgänge. Dieses Dokument wird in einigen Jahren Seltenheitswert haben, da weltweit jedes Jahr Millionen von Hammerhaien in Fischernetzen und an Langleinen verenden.“

 

mare No. 48

No. 48Februar / März 2005

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