Televisionär, der Seeteufel

Ein baskischer Sternekoch hatte eine Idee von bewegender Bildhaftigkeit: Er serviert seinen Fisch ganz multimedial auf einem Flachbildschirm

 

Nichts ist schöner, als den Finger in Spinat zu tauchen oder von Fischstäbchen die Kruste abzupulen. Nur eins war uns Kindern verboten: vor dem Fernseher zu essen. Das war nur zu besonderen Anlässen erlaubt, bei „Wetten, dass …?“ oder „Dalli Dalli“.

Juan Mari Arzak ist da großzügig. Der Baske lässt die kleinen und großen Gäste seines „Restaurante Arzak“ nicht nur vor, sondern auf dem Fernseher essen, sie müssen nicht mal ihr Zimmer aufgeräumt haben. Sechs TV-Teller stehen bei ihm im Geschirrschrank, entwickelt von Philips, exklusiv. Wer möchte, kann sich einen Seeteufel auf Wellenrauschen bestellen, ohne Aufpreis: ein digitaler Bilderrahmen, darauf der Fisch – hurtig, Kinder, zu Tisch!

Freilich geht es ihm nicht ums Programm, sondern ums Essen, die TV-Wellen rauschen eher im Hintergrund. Juan Mari Arzak der Große, weltberühmt nicht nur in Spanien, Drei-Sterne-Kochavantgardist seit Jahrzehnten, Reformator der baskischen Küche, er kocht auch für die kindliche Seele. An sie richten sich seine kulinarischen Märchen.

Eins davon heißt „Seeteufel bei Ebbe“, und dabei geht es darum, dass nichts so ist, wie es scheint. Gut, die Wellen sind echt. Zumindest das Bild von ihnen. (Wer sie wirklich sehen will, der muss das „Arzak“ verlassen und sich einen Spaziergang entfernt an den Strand von Zurriola stellen. Er ist einer der schönsten an der Biskaya und einer von dreien, die San Sebastián zu Füßen liegen.)

Aber der Seeteufel ist echt. Ein zartes kleines Stück, gesalzen und gebraten. Mehr nicht. Darum herum liegen orangefarbene Fischeierchen, rote Korallenspitzen, blaue Seesternchen. Und auch eine Herzmuschel liegt im Sand – ja wirklich, auf dem Teller ist Sand! – und daneben ihre Schale. Doch halt: Die Eier schmecken nach Paprika, die Sterne nach Pomeranze, die Korallen sind kross, die Muschel formfest, ihre Schale süß und zerbrechlich. Der Sand knirscht nicht zwischen den Zähnen, er schmeckt nach Ingwer, Rosen und Jasmin, Apfel, Nuss und Mandelkern – das ist doch alles erfunden und gelogen!

Ja, das ist es. „Jedes Gericht hat ein Konzept, und der Gast soll es selbst entdecken“, sagt Igor, Meisterschüler des großen Arzak. Er, sein Chef, dessen Tochter Elena und zwei weitere Köche haben sich das Märchen von den falschen Seesternen und Muscheln im ersten Stock ausgedacht, in einer kleinen Einbauküche, wo Schneebesen und Rührlöffel am Herd hängen und ein Quirl auf der Anrichte steht.

Die Idee hat Juan Mari Arzak, mittlerweile 69 und seit 45 Jahren am Herd, am Strand gefunden, bei Ebbe. „Man muss die Welt mit den Augen eines Kindes betrachten“, sagt er und zeigt uns sein Rezept: ein Blatt Papier voller Skizzen und Notizen. Inspiration bekam er dann neben der Einbauküche – in einem kleinen Raum mit

1400 Plastikdöschen. Die Arzaks nennen das ihr „Geschmackslager“. Die Dosen stehen auf verzinkten Regalen. Sie sind von hinten beleuchtet und mit Aufklebern versehen. Darauf stehen Namen, die mit „Krauspetersilie“ anfangen und mit „Mannit“ enden. In einer anderen Reihe finden sich pulverisierte Färberdisteln, Weizenfasern, Xanthan, Safran, Majoran … alles ist naturbelassen und luftdicht verschlossen. Es riecht nach nichts.

Neben den Regalen, auf einem kleinen Tisch, liegen eigens angefertigte weiße Eiswürfelformen: Knoblauchzehen, Walnüsse, Muscheln, Sterne. Aha. Anstatt mit Wasser füllt Arzak sie zum Beispiel mit Fischfond, Blue Curaçao oder Agar. Danach drückt er das Gelee aus dem weißen Silikon und hat blaue Sternchen. Arzak liebt offenbar nicht nur die kindliche Seele seiner Gäste, er hat selbst eine. An seinen Tagen mit Förmchen und Sand, wie die Kinder am Strand.

Seeteufel bei Ebbe à la Arzak
Zutaten (für vier Personen)
und Zubereitung
Falsche Koralle: In einer Schüssel
140 ml Wasser, 110 g Mehl, 30 g Weizenfaser und 2 g Cochenillefarbstoff zu einem Tempura-Frittierteig vermischen. Reichlich Olivenöl erhitzen, dann 30 g getrocknete Codiumalgen in der Tempura frittieren.
Falscher Sand: Eine Zwiebel und einen Lauch klein schneiden und anbraten,
100 g gebrannte Mandeln, 200 ml
Rosenwasser und einen Schuss Jasmintee, 30 g Amarulalikör und etwas geriebenen Ingwer dazugeben. Alles zermahlen und mit einem Pinsel auf die Teller streichen.
Falsche Herzmuscheln: 100 g Zwiebeln, 90 g Karotten und 40 g Lauch würfeln, braten und mit 15 g Butter und 25 ml Olivenöl dünsten. 80 g rohe Miesmuscheln dazugeben und garen, dann 300 ml Muschelsud und 1 g Agar dazugeben. Fünf Minuten köcheln lassen, dann alles pürieren, in echte leere Herzmuschelschalen gießen und auf einen Teller stürzen.
Seeteufel und Sauce: 80 g gewürfelten Fenchel fünf Minuten in 300 g Hühnerbrühe kochen, abseihen und mit 0,5 g Xanthan (Verdickungsmittel) verrühren. Den Seeteufel (je Person etwa 250 g) mit dem restlichen „falschen Sand“ bestreichen und scharf anbraten. Auf Teller platzieren und mit den restlichen Zutaten garnieren, die Sauce darüberträufeln.

Restaurante Arzak
Alcalde José Elósegui, 273, San Sebastián; Telefon +34 (943) 27 84 65; Di bis Sa 13.30 bis 15, 20.45–22.30 Uhr; So und Mo geschlossen; www.arzak.es

mare No. 91

No. 91April / Mai 2012

Von Brigitte Kramer und José Luis Villar

Brigitte Kramer, 1967 in München geboren, lebt seit vielen Jahren in Spanien, fast ihr halbes Leben. 
 Als sie Ende der 80er Jahre als Praktikantin in Barcelona ankam, wunderte sie sich darüber, dass es dort auch rothaarige Menschen gibt. Seitdem beobachtet und erlebt sie den Wandel des Landes und schreibt darüber für deutsche und spanische Zeitungen und Magazine. Gelernt hat sie ihr Handwerk an der Deutschen Journalistenschule in München. Später lebte und arbeitete sie zunächst als Stipendiatin der Süddeutschen Zeitung in Madrid, wo sie freiberuflich arbeitete, eine Kulturzeitschrift herausgab und Medienarbeit für Musiker machte. Seit neun Jahren ist sie nun auf Mallorca verwurzelt. Das Leben auf einer Insel findet sie sehr bereichernd: Anstatt in die Ferne zu schweifen, ist man gezwungen, in die Tiefe zu gehen. Als Autorin schürft sie am liebsten nach Geschichten, die ihr die Welt erklären, wie sie ist und wie sie war: Geschichte, Gesellschaft, Reise und Kultur sind ihre liebsten Ressorts.

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Vita Brigitte Kramer, 1967 in München geboren, lebt seit vielen Jahren in Spanien, fast ihr halbes Leben. 
 Als sie Ende der 80er Jahre als Praktikantin in Barcelona ankam, wunderte sie sich darüber, dass es dort auch rothaarige Menschen gibt. Seitdem beobachtet und erlebt sie den Wandel des Landes und schreibt darüber für deutsche und spanische Zeitungen und Magazine. Gelernt hat sie ihr Handwerk an der Deutschen Journalistenschule in München. Später lebte und arbeitete sie zunächst als Stipendiatin der Süddeutschen Zeitung in Madrid, wo sie freiberuflich arbeitete, eine Kulturzeitschrift herausgab und Medienarbeit für Musiker machte. Seit neun Jahren ist sie nun auf Mallorca verwurzelt. Das Leben auf einer Insel findet sie sehr bereichernd: Anstatt in die Ferne zu schweifen, ist man gezwungen, in die Tiefe zu gehen. Als Autorin schürft sie am liebsten nach Geschichten, die ihr die Welt erklären, wie sie ist und wie sie war: Geschichte, Gesellschaft, Reise und Kultur sind ihre liebsten Ressorts.
Person Von Brigitte Kramer und José Luis Villar
Vita Brigitte Kramer, 1967 in München geboren, lebt seit vielen Jahren in Spanien, fast ihr halbes Leben. 
 Als sie Ende der 80er Jahre als Praktikantin in Barcelona ankam, wunderte sie sich darüber, dass es dort auch rothaarige Menschen gibt. Seitdem beobachtet und erlebt sie den Wandel des Landes und schreibt darüber für deutsche und spanische Zeitungen und Magazine. Gelernt hat sie ihr Handwerk an der Deutschen Journalistenschule in München. Später lebte und arbeitete sie zunächst als Stipendiatin der Süddeutschen Zeitung in Madrid, wo sie freiberuflich arbeitete, eine Kulturzeitschrift herausgab und Medienarbeit für Musiker machte. Seit neun Jahren ist sie nun auf Mallorca verwurzelt. Das Leben auf einer Insel findet sie sehr bereichernd: Anstatt in die Ferne zu schweifen, ist man gezwungen, in die Tiefe zu gehen. Als Autorin schürft sie am liebsten nach Geschichten, die ihr die Welt erklären, wie sie ist und wie sie war: Geschichte, Gesellschaft, Reise und Kultur sind ihre liebsten Ressorts.
Person Von Brigitte Kramer und José Luis Villar