Tel Aviv ist Moderne

Die Weiße Stadt ist die größte Ansammlung modernistischer Architektur. Entworfen wurde sie von jüdischen Bauhaus-Schülern

Genia Averbuch ist 24 Jahre alt, als sie ihren ersten Wettbewerb gewinnt. Nicht irgendeinen Architekturwettbewerb, sondern das Herzstück einer Stadt für die Zukunft, einer gelebten Utopie. Sie entwirft den zentralen Platz von Tel Aviv, das eigentlich Herzlija hätte heißen sollen, dem Schriftsteller Theodor Herzl zu Ehren, dann aber nach Herzls Roman „Altneuland“ benannt wurde, „Tel“ (der Siedlungshügel) steht für „alt“, „Aviv“ (eigentlich „Frühling“) steht für „neu“, ein poetischer Name.

Genia Averbuch hat für ihr jugendliches Alter schon viel erlebt, sie ist eine weltgewandte Person. 1909 in Russland geboren, kam sie als Zweijährige mit ihren Eltern während der zweiten Alija, der zweiten jüdischen Welle der „Rückkehr“ nach Erez Israel, in das in ihrem Geburtsjahr nördlich der Hafenstadt Jaffa gegründete Tel Aviv, dessen Entstehung so mythisch wie vernünftig wie egalitär war: 66 sandige Parzellen werden am 11. April unter 66 Familien aufgeteilt, das Los entscheidet. 132 gesammelte Muschelschalen hat man be- schriftet, auf der einen Hälfte stehen die Familiennamen, auf der anderen die Parzellennummern. Ein Junge und ein Mädchen ziehen gleichzeitig eine Parzellenmuschel und eine Familienmuschel – und schon ist die Sache entschieden.

Während des Ersten Weltkriegs wird die kleine Genia mit ihren Eltern nach Ägypten vertrieben, ihren Schulabschluss macht sie wieder in Tel Aviv, mit 17 zieht es sie nach Rom und Brüssel, wo sie Architektur studiert, in diesen aufregenden Jahren, in denen in Europa die Moderne zu voller Blüte heranreift, wo die Avantgarde sich auf Adolf Loos beruft, der die Gebäude vom Ornament befreit hat, wo in Holland die Künstlergruppe De Stijl ihre experimentellen kubischen Bauten entwirft, wo der Schweizer Le Corbusier die Ästhetik der Architektur revolutioniert, wo erst in Weimar und dann in Dessau die Bauhäusler Kunst und Handwerk zusammenführen, wo in Stuttgart mit dem Bau der Weißenhofsiedlung der Welt gezeigt wird, was modernes Bauen ist, die Herrlichkeit des klaren Raumes, die Schönheit des flachen Daches, die Befreiung von Stuck und Tand: wegfegen all dieses tradierte schnörkelige Zeug, her mit Licht und Luft! Es sind euphorische Zeiten für junge Architekten.

1930 kehrt Averbuch in ihre rasant wachsende Heimatstadt zurück und arbeitet zwei Jahre für den Stadtplaner Richard Kauffmann, der 1920 im Zug der dritten Alija aus Deutschland nach Palästina eingewandert war, ein Modernist der ersten Stunde, der sogleich einen Bebauungsplan für das Strandviertel erarbeitet hat: die Strandpromenade als Zentrum des urbanen Lebens, dahinter Häuser in Gärten, sehr locker alles und sehr grün auch. Als Averbuch 1934 den Wettbewerb für den Zina-Dizengoff-Platz gewinnt, hat sie bereits mit ihrem Kurzzeitehemann Shlomo Ginsburg und der Berliner Innenarchitektin Elsa Gidoni-Mandelstamm an der internationalen Levante-Baumesse das Café „Galina“ gebaut, ein direkt am Strand gelegenes, mit allen Insignien der Moderne ausgezeichnetes Gebäude: ein Rundbau, leuchtend weiß, horizontale Fensterbänder, hauchdünnes Sonnendach auf zarten Stützen, Treppen wie die einer Gangway, überhaupt: diese Schiffsästhetik. Natürlich kennen die drei die Bauten von Le Corbusier und Erich Mendelsohn – welcher junge Architekt kennte sie nicht? Elsa Gidoni-Mandelstamm lebt erst seit wenigen Monaten in Tel Aviv. Als Adolf Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, hat sie ihr Innenarchitekturbüro in Berlin-Schöneberg geschlossen und ist dem sich verdüsternden Deutschland entflohen. Mit dem Schiff legte sie im Hafen von Haifa an, wie Zehntausende andere Flüchtlinge auch, unter ihnen Architekten, Ingenieure und Handwerker, die nicht viel im Gepäck trugen außer ihrem Wissen und der Idee, in Palästina eine humanere Welt aufzubauen oder, wie die Zionistin Lotte Cohn, die 1921 als erste deutsche Architektin eingewandert war, es formuliert hat: „Ein neues Land, und in ihm ein neues, besseres Leben, eine bessere menschliche Gesellschaft, keine Unterdrückung, keine sociale Ungerechtigkeit, keine Klassenunterschiede, eine freie, glückliche Jugend. Und mit diesem Wunschbild vor Augen gingen wir daran, unsere Welt zu formen.“

1921 bestand Tel Aviv aus 240 Häusern, kleine, schindelgedeckte Häuser und ein paar eklektische Villen entlang des breiten Rothschild-Boulevards, nur 2000 deutschsprachige Juden lebten hier. Als Averbuch den Wettbewerb gewinnt, wohnen hier schon 50 000 Menschen, und es werden immer mehr. Anders als Lotte Cohn kommen sie nicht freiwillig, sie kommen, weil sie müssen. Und auch die Stimmung ist eine andere als zehn Jahre zuvor, als Cohn über ihr freies Leben schwärmte: „Eltern? Eine Elterngeneration? Nein, die gab es nicht, jedenfalls nicht unter uns. Wir waren frei von der drückenden Belastung, die das Elternproblem unter Umständen für den Einzelnen und auch für die Gemeinschaft bedeuten kann.“

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mare No. 134

No. 134Juni / Juli 2019

Von Zora del Buono

Zora del Buono, Jahrgang 1962, arbeitete als Architektin, bevor sie mare mitbegründete. In den 1980er-Jahren, als sie an der ETH Zürich Architektur studierte, tobte ein Kampf zwischen zwei Stilen: Die Postmoderne erlebte ihren Höhepunkt, die Modernisten hielten dagegen. Sie gehörte eindeutig zu Letzteren.

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Vita Zora del Buono, Jahrgang 1962, arbeitete als Architektin, bevor sie mare mitbegründete. In den 1980er-Jahren, als sie an der ETH Zürich Architektur studierte, tobte ein Kampf zwischen zwei Stilen: Die Postmoderne erlebte ihren Höhepunkt, die Modernisten hielten dagegen. Sie gehörte eindeutig zu Letzteren.
Person Von Zora del Buono
Vita Zora del Buono, Jahrgang 1962, arbeitete als Architektin, bevor sie mare mitbegründete. In den 1980er-Jahren, als sie an der ETH Zürich Architektur studierte, tobte ein Kampf zwischen zwei Stilen: Die Postmoderne erlebte ihren Höhepunkt, die Modernisten hielten dagegen. Sie gehörte eindeutig zu Letzteren.
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