Taxi zum Eismeer

Mordskälte, massenweise Schnee, dazu stürmischer Wind. Im norwegischen Hafen Båtsfjord geht keiner gern zu Fuß

Die Strassen von Kirkenes sind dicht befahren, es ist ein Kommen und Gehen. Erst als wir die kleine Stadt verlassen, merken wir, dass es ein Binnenverkehr ist, ein Binnenleben. Nur wenige Autos wagen sich hinaus in die Dunkelheit, die sich von hier aus über Dutzende von Kilometern erstreckt bis zur nächsten Siedlung. Die wenigen Stationen, die das Autoradio findet, spielen harte, hämmernde Musik. Die Straße führt nach Westen, später nach Norden und dann wieder zurück nach Osten. Die unregelmäßige Küstenlinie lässt aus 100 Kilometer Luftlinie mehr als 200 auf der Straße werden.

Båtsfjord, unser Ziel, liegt im äußersten Norden Norwegens, nicht weit vom Nordkap und vom Dorf, in dem Tanja Blixen ihre berühmte Geschichte „Babettes Fest“ angesiedelt hat. Aber die hohen Berge und schmalen Meeresarme, die die dänische Schriftstellerin beschrieb, sind Metaphern, man findet sie hier oben ebenso wenig wie die lustfeindliche puritanische Dorfgemeinschaft des Buches. Immer schon waren die weißen Landschaften des Nordens eine Leinwand, auf die alles mögliche projiziert wurde. Wer über den Norden schreibt, schreibt vor allem über sich selbst.

Båtsfjord liegt am Ende eines zehn Kilometer langen Fjords, umgeben vom Fjell, einer Hochebene mit polarem Klima. Das Dorf ist jung. Vor 100 Jahren wohnten die meisten Bewohner noch an der Mündung des Fjords, dort, wo bis heute der Leuchtturm von Makkaur steht. Erst als sich die Fischer nach dem Zweiten Weltkrieg Motorboote anschaffen konnten, brachen sie ihre Hütten ab und bauten sie an den geschützten Ufern des Fjords wieder auf.

Paula Hansen war zehn Jahre alt, als ihre Familie 1927 nach Båtsfjord kam. „Damals lebten hier nicht mehr als 30 Familien“, erinnert sich Paula, die heute im Altersheim der Gemeinde wohnt. „Die Leute waren Fischer. Daneben hatten manche ein paar Kühe, Schafe und Pferde.“ Eine Straße gab es noch nicht, und die Schiffe der Hurtigruten hielten draußen vor dem Fjord. Wer das Dorf verlassen wollte, musste ein eigenes Boot haben oder zu Fuß über das Fjell wandern.

Der Fisch – Dorsch, Rotbarsch, Schellfisch – wurde getrocknet oder gesalzen. Während der Wintermonate zog ein Teil der Männer noch weiter nach Norden, um sich in den Kohlenminen von Spitzbergen Geld dazuzuverdienen. „Viele Familien waren sehr arm“, erzählt Paula, „oft fehlte es an Lebensmitteln und an Brennholz.“ Aber, nein, ein hartes Leben sei es nicht gewesen. An den Samstagen habe es Feste gegeben, Maskeraden und Tanz. Und in den Ferien seien sie über den Fjord gefahren, wo damals noch ein paar Häuser standen. Vielleicht noch mehr als die Motorboote veränderten die Autos das Leben im Dorf, der Bau der Straße 1961. Zehn Jahre vorher lebten 800 Menschen in Båtsfjord, in den frühen sechziger Jahren waren es beinahe 3000. Seither hat die Bevölkerung um ein Fünftel abgenommen.

Am großen Tisch in der „Velferdsstua“, einem mit Holz verkleideten Restaurant, sitzen ein paar junge Mütter und trinken Kaffee. Einige haben ihre Kinder auf den Knien, andere haben sie draußen gelassen, dick eingepackt im Kinderwagen und bewacht von einem Babyfon. An der Wand hängt ein Bild von Fischern, die sich im Ruderboot durch den Sturm kämpfen. Vor den Fenstern spiegelt sich der rötliche Himmel im dunklen Wasser des Fjords. Es dämmert. Es ist kurz nach ein Uhr mittags. Seit mehr als zwei Monaten ist die Sonne in Båtsfjord nicht aufgegangen. Vor einer Woche hat sie zum ersten Mal wieder den theoretischen Horizont überschritten. Zu sehen sein wird sie erst in einer Woche, um zehn Uhr morgens, wenn sie hier, im äußersten Osten der mitteleuropäischen Zeitzone, den Zenit erreicht. Ist das Wetter schlecht, kann es noch einmal Tage dauern, bis die ersten Sonnenstrahlen das Dorf erreichen. Wenn die Polarnacht einmal vorbei ist, werden die Tage rasch länger, bis Mitte Mai die Zeit der Mitternachtssonne beginnt.

Aber daran scheint jetzt noch niemand zu denken. Die Rückkehr der Sonne interessiert die Bewohner des Dorfes nur mäßig. Es wird die eine oder andere Party geben, die Schüler bekommen einen halben Tag frei. Ein richtiges „Solfest“, ein Sonnenfest, gibt es nur in den Kindergärten und im Altersheim. „Aber wir feiern auch ein Dunkelheitsfest, wenn der Winter kommt“, sagt die Kindergärtnerin Line Røtvold plötzlich, als wundere sie sich selbst darüber. „Man muss versuchen, die Nacht positiv zu sehen.“ Sie holt das Heft mit den Liedern, die sie mit den Kindern bei Wintereinbruch singt:

Schaun wir in den Himmel,
sehen wir die Sterne.
Sie blinken und funkeln
wie kleine Laternen.
In der Dunkelheit leben wir.
Wir leben in der Dunkelheit.

In der „Velferdsstua“ packen die Mütter ihre Kinder in wattedicke Overalls und verabschieden sich voneinander. Das Lokal leert sich. Um halb vier wird geschlossen. Ursprünglich kehrten hier die fremden Fischer ein, hier konnten sie duschen, ihre Wäsche waschen, essen und Kaffee trinken.

Früher haben bis zu 12000 Fischer in der Region gearbeitet, haben ihre Fänge im Dorf verkauft, sich mit Lebensmitteln eingedeckt und einen lustigen Abend verbracht, bevor sie wieder hinausgefahren sind für eine oder zwei Wochen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Preise für gefrorenen Fisch sind gefallen, die Schiffe größer geworden. Die „Ozia“, ein riesiger grönländischer Trawler, der eben angelegt hat, ist nur an Land gekommen, weil sich ein Mitglied der Crew an der Hand verletzt hat und ins Krankenhaus muss. Normalerweise bleibt das Schiff zwei Monate lang auf See. Der Fisch wird an Bord filetiert und eingefroren. Auch die russischen Trawler, die früher einen guten Teil der Fische brachten, entladen ihre Fänge immer öfter auf hoher See.

In den letzten zwei Jahren haben drei von vier Fischfabriken Konkurs gemacht. Inzwischen haben zwei wieder eröffnet. Sie arbeiten mit kleinerer Belegschaft und haben sich auf Frischfisch spezialisiert. Einen neuen Erwerbszweig haben sie mit der Verarbeitung von Kamtschatka-Krabben gefunden, die von den Russen vor einigen Jahrzehnten in der Barentssee ausgesetzt wurden und sich seither explosionsartig vermehrt haben. 300000 Krabben wurden letztes Jahr gefangen, und glaubt man den Einheimischen, ließe sich die Quote leicht verdoppeln.

„Es war eine dunkle Zeit“, sagt Geir Knutsen, der Bürgermeister von Båtsfjord, „über Nacht verschwand ein Viertel der Arbeitsplätze.“ Allein im letzten Jahr nahm die Bevölkerung des Dorfes um fünf Prozent ab, die ausländischen Arbeiter aus Finnland, Russland, Sri Lanka zogen weg. Ob das Dorf irgendwann verschwinden wird, zu einem Geisterdorf werden wird wie Hammingberg, Syltefjord, Makkaur? Daran will Geir Knutsen nicht glauben. „Der Fisch ist da draußen. Lasst ihn uns holen. Dann können wir überleben.“ Der Bürgermeister weiß, wovon er spricht. Er ist Sohn eines Fischers. Inzwischen ist sein Vater in Rente gegangen, aber das Schiff besitzt er noch und eine Fangquote von 20 Tonnen, gerade genug, um die Auslagen zu decken.

Ein böiger Wind ist aufgekommen. Er bläst Schnee von den Dächern und über die Berggrate in der Ferne. Der Himmel hat alle möglichen Farben, Graublau im Norden, Grün, Rot und ein warmes Honiggelb im Süden. Dann verschwinden die warmen Farben und weichen einem dunkler werdenden Blau. Um drei Uhr ist es finstere Nacht. Man gewöhne sich nicht an die Dunkelheit. Je älter man werde, desto mehr leide man darunter, sagt man uns immer wieder.
Aber wenn man die Leute fragt, ob sie wegwollen aus dem Dorf, schütteln die meisten den Kopf.


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mare No. 53

No. 53Dezember 2005 / Januar 2006

Von Peter Stamm und Gueorgui Pinkhassov

Peter Stamm, Jahrgang 1963, ist Schriftsteller und lebt in Zürich. In der Polarnacht erlebte er den Normalzustand der Lichtlosigkeit. „Dunkelheit ist nichts, was über einen kommt, sondern das, was bleibt, wenn nichts mehr ist.“

Gueorgui Pinkhassov, geboren 1952, Fotograf der Pariser Agentur Magnum, beeindruckte sein erster Anblick eines Nordlichts. „Auf dem klaren Nachthimmel entsteht eine leichte Wolke. Ein erstaunliches Muster. Es hält sich für einige Sekunden und verschwindet langsam.“

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Vita Peter Stamm, Jahrgang 1963, ist Schriftsteller und lebt in Zürich. In der Polarnacht erlebte er den Normalzustand der Lichtlosigkeit. „Dunkelheit ist nichts, was über einen kommt, sondern das, was bleibt, wenn nichts mehr ist.“

Gueorgui Pinkhassov, geboren 1952, Fotograf der Pariser Agentur Magnum, beeindruckte sein erster Anblick eines Nordlichts. „Auf dem klaren Nachthimmel entsteht eine leichte Wolke. Ein erstaunliches Muster. Es hält sich für einige Sekunden und verschwindet langsam.“
Person Von Peter Stamm und Gueorgui Pinkhassov
Vita Peter Stamm, Jahrgang 1963, ist Schriftsteller und lebt in Zürich. In der Polarnacht erlebte er den Normalzustand der Lichtlosigkeit. „Dunkelheit ist nichts, was über einen kommt, sondern das, was bleibt, wenn nichts mehr ist.“

Gueorgui Pinkhassov, geboren 1952, Fotograf der Pariser Agentur Magnum, beeindruckte sein erster Anblick eines Nordlichts. „Auf dem klaren Nachthimmel entsteht eine leichte Wolke. Ein erstaunliches Muster. Es hält sich für einige Sekunden und verschwindet langsam.“
Person Von Peter Stamm und Gueorgui Pinkhassov