Tanz in den Tiefen

In der Frühzeit des Tauchens inszenierten zwei Franzosen surreale Welten unter Wasser und träumten von einem schwerelosen Dasein

Im Frühjahr 1925 besuchte Yves Le Prieur, französischer Marineoffizier und vielseitiger Erfinder, die Exposition internationale des Arts Décoratifs et industriels modernes in Paris. In einem Schauaquarium führte dort ein Mann in Badeanzug und Schlappen, ausgerüstet mit einem Leichttauchgerät, das durch einen Schlauch mit einer Luftpumpe an der Oberfläche verbunden war, den Prototyp eines Schneidbrenners vor. Le Prieur war fasziniert, es schien sich ein Fenster in eine paradiesische Zukunft zu öffnen. Er imaginierte ein Leben unter Wasser in schwereloser Leichtigkeit.

Le Prieur begann zu überlegen, wie man den schweißenden Taucher auch noch von Schlauch und Pumpe befreien könnte, und suchte kurz entschlossen Maurice Fernez auf, den Erfinder dieses einfachen, damals bei Bergungstauchern beliebten Geräts. Er schlug ihm vor, die Luftschläuche durch eine Druckluftflasche zu ersetzen, wie sie die Firma Michelin zum Befüllen ihrer brandneuen Autoreifen gerade auf den Markt gebracht hatte. Taucher könnten sich so leichter durchs Wasser bewegen und ungehindert überall hinspazieren.

Mitte der 1920er-Jahre waren Tauchgänge eine Sache für Helden und submarine Proletarier. Die Helmtaucher in ihren gewichtigen Anzügen mit anfälliger Luftzufuhr waren harte Männer in riskanten Unternehmungen, Symbolträger für den Triumph der schweren Maschinen des Industriezeitalters, nicht für Spazierfreuden oder Bequemlichkeit. Le Prieurs Einfall, ein autonomes Tauchgerät zu entwickeln, um, wie er in seiner Autobiografie schrieb, die „Unterwasserwelt wie ein Fisch gewordener Mensch“ zu durchstreifen, muss damals wie eine Schnapsidee geklungen haben.

Maurice Fernez willigte ein. Le Prieur ging an die Arbeit und befestigte eine Dreiliterflasche von Michelin mit einem Druck von 150 Bar an Fernez’ einfachem Gummimundstück mit Entenschnabelventil und band sich die Flasche mit einem Lederriemen wie einen Rucksack auf den Rücken. Noch im gleichen Sommer testete er sein neues Tauchgerät am Strand von Saint-Raphaël und fiel in Entzücken. „Ich bin hingerissen von so viel Schönheit. Völlig befreit von meinem Gewicht, mache ich Riesensprünge, Loopings und Kapriolen. Meine Begeisterung ist unbeschreiblich.“

Ein Jahr später, im Frühling 1926, stellte Le Prieur die neue Erfindung, den Fernez-Le-Prieur-Tauchapparat, in einem Pariser Schwimmbad vor. Gute zehn Minuten lang hüpfte und wedelte er vor den Augen eines staunenden Publikums durchs Wasser und freute sich wie ein Kind, so schrieb er später, dem ein Zauberspielzeug an die Hand gegeben worden war.

Die Öffentlichkeit war begeistert. Vor allem, nachdem es Le Prieur in den folgenden Jahren gelang, eine Vollgesichtsmaske zu entwickeln, die die schmerzhafte Taucherbrille, die lästige Nasenklemme und das unangenehme Mundstück ersetzte. Das submarine Flanieren wurde zu einer aufsehenerregenden Beschäftigung. Ein Nachteil war nur, dass aus der Flasche ununterbrochen Luft strömte, die zudem über ein Ventil ständig nachreguliert werden musste, weshalb die Erfindung für längere Tauchgänge nicht geeignet war. In zehn Meter Tiefe war die Flasche bereits nach zehn Minuten leer. Selbst als Le Prieur den Flascheninhalt auf 6,5 Liter bei 180 Bar erhöhte, konnte man maximal 20 Minuten lang bis zu zwölf Meter tief tauchen.

Heute ist Tauchen ein Breitensport, für Le Prieur und seine Zeitgenossen hingegen lagen die Dinge noch anders. Für sie war das Eindringen in die Unterwasserwelt etwas Mondänes, unbeschreiblich Exzeptionelles, dem es in angemessener Haltung zu begegnen galt. Nicht umsonst bezeichnete Le Prieur sein Tauchgerät als „Zauberspielzeug“, das den Zugang in eine neue glamouröse Unterwasserwelt öffnete.

Anfang der 1930er-Jahre lernte Le Prieur den französischen Tauchpionier Jean Painlevé kennen. Pain­levé war Biologe, Filmkünstler, Meeresforscher, Mitglied der surrealistischen Bewegung und Autor von fast 200 Kurzfilmen. In ihnen konnte ein begeistertes Publikum Einsiedlerkrebse, Oktopusse, Röhrenwürmer und Spinnkrabben bestaunen, wie sie in unwirklichen Vergrößerungen, musikalisch beschleunigt, metaphysisch verlangsamt, mit kunstvollster Lichtregie und orphischen Überblendungen über die Leinwand schwammen.

Er filmte vorzugsweise in riesigen Aquarien in seinem Pariser Studio in der Rue Armand-Moisant, ge­le- gentlich aber auch unter Wasser. Teile seines größten Filmerfolgs, „L’Hippocampe“, waren 1933 in der Bucht von Arcachon entstanden, als er noch mit dem leichten Tauchanzug von Fernez eine Gruppe trächtiger männlicher Seepferdchen filmte und beinahe ertrunken wäre. Umso glücklicher war er, als er ein Jahr später seine Filmarbeiten mit Le Prieurs neuer Apparatur fortsetzen konnte, da sie ihm nicht nur das Beobachten erheblich erleichterte, sondern auch wesentlich längere Aufnahmezeiten erlaubte.


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mare No. 114

No. 114Februar / März 2016

Von Natascha Adamowsky

Natascha Adamowsky leitet das Institut für Medienkulturwissenschaft der Universität Freiburg. Meer ist für sie eine Metapher für die Grenzen des Wissbaren und ein Versprechen auf das, was dahinter liegt.

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