Tanger – Der Himmel der genialen Lumpen

Für zwei Jahrzehnte war die marokkanische Hafenstadt ein zentraler Ort der Inspiration der libertinären literarischen Bohème

Was für ein merkwürdiger Ort“, sagte mir William S. Burroughs im Alter von 78 Jahren, immer noch merklich beeindruckt von Tanger. Dabei lag sein Aufenthalt in der marokkanischen Hafenstadt bereits eine kleine Ewigkeit zurück.

1953 war der amerikanische Schriftsteller zum ersten Mal in die Weiße Stadt an der Meerenge von Gibraltar gereist. Zwei Jahre zuvor hatte er im Suff seine Frau in Mexiko-Stadt bei einem Wilhelm-Tell-Spiel erschossen. Er suchte nun einen Ort, an dem er endlich zur Ruhe kommen konnte. Die Internationale Zone Tanger schien für den damals 39-Jährigen perfekt zu sein. Opiate und Marihuana waren frei erhältlich, ebenso Sex mit jungen Männern. Der Harvard-Absolvent und Sohn eines Industriellenhauses fühlte sich wie im Himmel. In den USA konnte er für derlei Vorlieben im Gefängnis oder in der Psychiatrie landen.

Die nächsten vier Jahre saß der Kultautor meist in seinem Zimmer der Pension „Muneria“, monomanisch schreibend nach dem Genuss von Opiaten oder Haschischmarmelade. Das Resultat war der Roman „Naked Lunch“, von dem er sagte, er wisse gar nicht, wie er zustande gekommen sei. Tatsächlich mussten seine Freunde Allen Ginsberg, Alan Ansen und Jack Kerouac einen unübersichtlichen Wust von Manuskripten, Notizen und Briefen bearbeiten, bevor daraus ein Buch entstehen konnte. Heute gilt „Naked Lunch“ als ein Klassiker der modernen amerikanischen Literatur.

Burroughs war nicht der einzige Künstler, den es in die Internationale Zone im Norden Marokkos zog. Die Liste bekannter Autoren, Maler und Musiker ist lang: Jane Bowles und Paul Bowles, Tennessee Williams, Truman Capote, Francis Bacon, Brion Gysin, Jean Genet, Alberto Moravia und Samuel Beckett, um nur einige wenige zu nennen. Ihnen folgten, wie so oft, die Reichen und Schönen der Haute Bohème.

Viele von ihnen kamen aus Neugier, die meisten allerdings hatten ähnliche Motive wie Burroughs und wollten feiern. „Jeden Tag gab es irgendwo in der Stadt eine große Party“, erzählte Paul Bowles, der seit den vierziger Jahren in Tanger wohnte und durch die Verfilmung seines Romans „Himmel über der Wüste“ von Bernardo Bertolucci 1990 international berühmt wurde. „Viele Leute kamen, um ‚weiße Weihnachten‘ zu feiern, womit sie natürlich Kokain meinten.“

Legendär waren die Partys in der Villa von Barbara Hutton. Die exzentrische Multimillionärin, die sieben Ehemänner verschliss, legte Wert auf Extravaganz und engagierte, wenn nötig, Dutzende Reiter aus der Sahara als Empfangskomitee. „Für eine Party bei Barbara Hutton konnte man nicht einfach ein Abendkleid aus dem Schrank nehmen“, erzählte Marguerite McBey, Malerin und Erbin des Lucky-Strike-Imperiums, bei einer Führung durch ihr luxuriöses Anwesen mit Aussichtsturm, Strandhaus und großzügigem Atelier am Alten Berg von Tanger. „Ich flog vorher nach London und ging von Designer zu Designer, bis ich bei John Cavanagh ein Kleid entdeckte, das ich unbedingt haben musste.“

Der Möbelproduzent Yves Vidal lud regelmäßig in sein mondänes Riad, eines der traditionellen marokkanischen Häuser mit Innenhof, in der Kasbah, beliebt wegen des partytauglichen Swimmingpools. Bei 1,20 Meter Tiefe konnte man darin selbst im Vollrausch kaum ertrinken. „Als Tennessee Williams in voller Klamotte mit einem Glas Whisky in der Hand das Becken durchwatete, war das unglaublich komisch“, erinnerte sich Sir David Herbert, ein Abkömmling des englischen Königshauses, der „die Unterhaltung von Gästen“ als seine „Lebensaufgabe“ betrachtete. Der zweite Sohn des Earl of Pembroke empfing High Society, Maler und Schriftsteller fast täglich zu Lunch, Diner oder Cocktail in seiner Villa. Seinen Gästen zeigte er gerne den riesigen, verwilderten Garten und die Volieren mit exotischen Vögeln, die ihren adeligen Besitzer stets mit lautem Pfeifen begrüßten.

Sehr beliebt waren auch Feste in den „Grotten des Herkules“ am Atlantikstrand, die man heute als Motiv auf jeder Postkarte von Tanger findet. Die geräumigen Höhlen, in denen einst der griechische Halbgott eine Rast eingelegt haben soll, wurden mit Teppichen ausgelegt und mit Hunderten von Kerzenleuchtern erhellt. „Truman Capote gab dort eine Party“, berichtete Paul Bowles, „wollte aber partout nicht die Klippen zur Höhle hinuntersteigen, aus Angst vor Skorpionen. ,Niemand bringt mich darunter, nicht mal für eine Million Dollar‘, sagte er. Schließlich baute man ihm eine kleine Sänfte. ,Bye-bye!‘, hat er allen zugerufen, als man ihn wie einen Prinzen die Klippen hinuntertrug.“

William S. Burroughs hatte zu dieser Hautevolee keinen Zutritt. Mit einem monatlichen 200-Dollar-Scheck seiner Eltern galt er als minderbemittelt, hauste in einer schäbigen Pension und kannte – außer Apothekern, Dealern und Liebhabern – kaum jemanden. „Eine Schriftstellerkolonie gibt es nicht“, schrieb „el hombre invisible“, der unsichtbare Mann, wie er in Tanger genannt wurde, an seinen Freund Allen Ginsberg in New York, „und wenn doch, dann leben sie irgendwo im Verborgenen.“


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mare No. 80

No. 80Juni / Juli 2010

Von Alfred Hackensberger

Alfred Hackensberger, geboren 1959 in München, lebt auf Lanzarote. Regelmäßig kehrt er nach Tanger zurück, wo er acht Jahre gelebt hat. „In einem Sprichwort heißt es: ,Wer die weiße Stadt Tanger einmal gesehen hat, wird über sie weinen, wenn er in der Fremde ist.‘“ Ganz so arg ergeht es dem Autor nicht, aber nach ein paar Monaten treibt es ihn immer wieder in die Hafenstadt zurück, die bei allen Neuerungen einen Teil ihres alten Charmes behalten hat. Zuletzt erschienen von ihm Arabien remixed im Wohlers Verlag und Lexikon der Islamirrtümer im Eichborn Verlag.

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Vita Alfred Hackensberger, geboren 1959 in München, lebt auf Lanzarote. Regelmäßig kehrt er nach Tanger zurück, wo er acht Jahre gelebt hat. „In einem Sprichwort heißt es: ,Wer die weiße Stadt Tanger einmal gesehen hat, wird über sie weinen, wenn er in der Fremde ist.‘“ Ganz so arg ergeht es dem Autor nicht, aber nach ein paar Monaten treibt es ihn immer wieder in die Hafenstadt zurück, die bei allen Neuerungen einen Teil ihres alten Charmes behalten hat. Zuletzt erschienen von ihm Arabien remixed im Wohlers Verlag und Lexikon der Islamirrtümer im Eichborn Verlag.
Person Von Alfred Hackensberger
Vita Alfred Hackensberger, geboren 1959 in München, lebt auf Lanzarote. Regelmäßig kehrt er nach Tanger zurück, wo er acht Jahre gelebt hat. „In einem Sprichwort heißt es: ,Wer die weiße Stadt Tanger einmal gesehen hat, wird über sie weinen, wenn er in der Fremde ist.‘“ Ganz so arg ergeht es dem Autor nicht, aber nach ein paar Monaten treibt es ihn immer wieder in die Hafenstadt zurück, die bei allen Neuerungen einen Teil ihres alten Charmes behalten hat. Zuletzt erschienen von ihm Arabien remixed im Wohlers Verlag und Lexikon der Islamirrtümer im Eichborn Verlag.
Person Von Alfred Hackensberger