Starr verharrt er auf dem gelben Sand, an der Schnittstelle von Asphalt und Strand. Den Blick aufs Meer gerichtet, schweigt Mahmud nun schon minutenlang. Die See ist ruhig. Nur eine israelische Drohne am wolkenlosen Horizont surrt leise, sonst steht alles still am Strand von Gaza. Zu still für Mahmud. Über seine Lippen geht ein leiser Fluch.
Jeden Tag kommt Mahmud Al Reyashi, der Surfer, an diese Stelle an der Rashid-Straße, gleich vor ihm beginnt der Strand. Mahmud, 21 Jahre alt, glattes Kinn, kneift die Augen zusammen, die Stirn kräuselt, er zählt die Wellen. Nach fünf kleinen kommt eine größere. „Mit solch einer könnte es klappen, vielleicht“, murmelt er und fingert sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, spricht schnell und kurz: „Wellen … in einer halben Stunde … bis gleich!“ Dann hetzt er über die Straße, hinüber zu dem Haus aus rohem Beton mit rostigen Satellitenschüsseln auf dem Dach und einem verbeulten Autowrack davor, sprintet sieben Stockwerke nach oben, raus aus der Jeans, rein in den Wetsuit, klemmt sich das Longboard unter den Arm, rennt sieben Stockwerke wieder hinunter. Nur keine Zeit verschwenden, wer weiß, vielleicht ändert das Meer seine Meinung bald schon wieder. Surfen. Endlich surfen.
Denn der Alltag in Gaza ist langweilig, geprägt von Arbeitslosigkeit, Stundenzählen und Nahostkonflikt. Wenn er nicht surft, studiert Mahmud Multimedia an der Al-Aqsa-Universität in Gaza-Stadt, spielt mit Kumpels Fußball, chattet auf dem alten Computer eines Freundes auf Facebook mit der Welt, und jeden Tag von fünf Uhr früh bis mittags steht er mit seinem Bruder Ahmed am Familienstand auf dem Al-Yarruq-Markt und verkauft aus China importierte Radkappen, Scheibenwischer oder Rückspiegel, die durch die illegalen Schmugglertunnel nach Gaza gelangt sind. Abends nimmt er jede Hochzeit mit, die in der Nachbarschaft gefeiert wird. Weil dort Musik gespielt wird und man tanzen, singen und mal ein bisschen die Sau rauslassen kann; allerdings nur mit Jungs, versteht sich. Und wenn er nicht arbeitet, tanzt, studiert oder surft, verfolgt er gebannt, wie sein geliebter FC Barcelona die Gegner deklassiert. So vergeht die Zeit. Surfen und Messi. Hauptsache, raus aus der engen Wohnung, die er sich mit seinen sechs Geschwistern und den Eltern teilt.
Mahmud ist als Erster am Scheikh-Eylin-Strand. Ein paar Minuten später trudelt Ibrahim Arafat ein, sein bester Freund. Ein frommer junger Mann, der selten lacht, 20 Jahre alt. Sie umarmen sich, klopfen auf Schultern. Das Trio komplettiert Yusuf Abu Ghanem, das Nesthäkchen, das manchmal die Schule schwänzt, wenn die Wellen gut sind. Yusuf ist ein Junge mit traurigem Blick. 17 Jahre alt und schon keine Träume mehr, weil sie ja ohnehin nicht in Erfüllung gehen, glaubt er. Jetzt stehen sie hier an der Schwelle zwischen Enge und Freiheit, vor ihnen Wellen, hinter ihnen der Alltag aus Einschränkungen, Verboten und Arbeitslosigkeit. Drei Freunde, halbe Kinder noch, drücken ihre Surfbretter in den Sand und schauen aufs Meer, fixieren kurz das israelische Patrouillenboot, das sich dort draußen hin und her bewegt, wie ein Kettenhund an einer Leine. Fünf Mädchen schlendern langsam vorbei, sie tragen Kopftücher und sind in schwarze Mäntel gehüllt, lächeln schüchtern und ein wenig kokett in Mahmuds Richtung. Ihre Gesichter glätten sich, als sie merken, dass die Jungs durch sie hindurchblicken. Beleidigt wenden sie sich ab und wandern zurück in die Schatten von Hochhäusern im Rohbau.
Wellen bedeuten für die drei alles, vor allem Freiheit. Es ist ihre Art, allen, die ihre Träume, ihre Jugend, ihre Zukunft einsperren, zu trotzen: den Israelis, die einen Zaun um ihre Städte im Gazastreifen gezogen, die Grenze vermint und dichtgemacht haben. Den religiösen Hardlinern von der Hamas, die Kassam-Raketen in israelische Wohngebiete abfeuern, die Frauen unter Kopftüchern verstecken und Kultur, Tanz, Musik und eigentlich alles, was Spaß macht, verbieten. Und schließlich den Vereinten Nationen und allen anderen, die zwar viel reden, aber selten handeln.
Gaza ist ein Fliegenschiss von einem Landstrich, gerade so groß wie Sylt. 1,7 Millionen Insassen auf engstem Raum, 42 trübselige Kilometer lang und zehn Kilometer breit, mit einem Hafen, in dem keine Schiffe mehr anlegen, und einem Flughafen, in dem keine Flugzeuge mehr landen. Abgeriegelt von der Außenwelt – kaum jemand kommt heraus, fast nichts hinein. Hier ist die Zukunft für die meisten nie weiter entfernt als der nächste Tag.
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Carsten Stormer, Jahrgang 1973, ist Korrespondent der Agentur Zeitenspiegel in Manila. Er berichtet aus Krisengebieten und schreibt Sozialreportagen aus Asien. Eine Woche bevor er nach Gaza reiste, war hier ein italienischer Journalist von Salafisten ermordet worden. Doch vor Ort fühlte sich Stormer sicher. Kurz nach der Abreise erhielt er eine Mail aus Gaza: Extremisten wollten einen Ausländer entführen und ermorden, um bin Ladens Tod zu rächen. Stormer solle wachsam sein, falls er vor Ort sei.
Alessandro Gandolfi, 1970 geboren, lebt als freier Fotograf in Parma und wird durch die italienische Agentur ParalleloZero vertreten. Auf die Gaza-Surfer ist er zu Hause am Schreibtisch gekommen. Er wollte eine Geschichte über Gaza finden, die nicht das übliche Bild von Krieg und Zerstörung zeigt. Da der Gazastreifen am Meer liegt, hat er spaßeshalber „Gaza Surf“ bei Google eingegeben und ist auf die Seite des Surfklubs geraten.
In unserem Kindermagazin mare aHoi! No. 2 finden Sie auch Stormers und Gandolfis Reportage über die surfenden Gaza-Girls.
Vita | Carsten Stormer, Jahrgang 1973, ist Korrespondent der Agentur Zeitenspiegel in Manila. Er berichtet aus Krisengebieten und schreibt Sozialreportagen aus Asien. Eine Woche bevor er nach Gaza reiste, war hier ein italienischer Journalist von Salafisten ermordet worden. Doch vor Ort fühlte sich Stormer sicher. Kurz nach der Abreise erhielt er eine Mail aus Gaza: Extremisten wollten einen Ausländer entführen und ermorden, um bin Ladens Tod zu rächen. Stormer solle wachsam sein, falls er vor Ort sei.
Alessandro Gandolfi, 1970 geboren, lebt als freier Fotograf in Parma und wird durch die italienische Agentur ParalleloZero vertreten. Auf die Gaza-Surfer ist er zu Hause am Schreibtisch gekommen. Er wollte eine Geschichte über Gaza finden, die nicht das übliche Bild von Krieg und Zerstörung zeigt. Da der Gazastreifen am Meer liegt, hat er spaßeshalber „Gaza Surf“ bei Google eingegeben und ist auf die Seite des Surfklubs geraten. In unserem Kindermagazin mare aHoi! No. 2 finden Sie auch Stormers und Gandolfis Reportage über die surfenden Gaza-Girls. |
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Person | Von Carsten Stormer und Alessandro Gandolfi |
Vita | Carsten Stormer, Jahrgang 1973, ist Korrespondent der Agentur Zeitenspiegel in Manila. Er berichtet aus Krisengebieten und schreibt Sozialreportagen aus Asien. Eine Woche bevor er nach Gaza reiste, war hier ein italienischer Journalist von Salafisten ermordet worden. Doch vor Ort fühlte sich Stormer sicher. Kurz nach der Abreise erhielt er eine Mail aus Gaza: Extremisten wollten einen Ausländer entführen und ermorden, um bin Ladens Tod zu rächen. Stormer solle wachsam sein, falls er vor Ort sei.
Alessandro Gandolfi, 1970 geboren, lebt als freier Fotograf in Parma und wird durch die italienische Agentur ParalleloZero vertreten. Auf die Gaza-Surfer ist er zu Hause am Schreibtisch gekommen. Er wollte eine Geschichte über Gaza finden, die nicht das übliche Bild von Krieg und Zerstörung zeigt. Da der Gazastreifen am Meer liegt, hat er spaßeshalber „Gaza Surf“ bei Google eingegeben und ist auf die Seite des Surfklubs geraten. In unserem Kindermagazin mare aHoi! No. 2 finden Sie auch Stormers und Gandolfis Reportage über die surfenden Gaza-Girls. |
Person | Von Carsten Stormer und Alessandro Gandolfi |