Strandvolks Begehren

Jeden Sommer strömen die Ukrainer in das Strandbad Kirillowka am Asowschen Meer. In ihrem Gefolge ein Heer von Händlern, Dienstleistern und Glücksuchern, die auf gute Geschäfte hoffen

Also dann: Bringen Sie mir als ersten Gang einen ukrainischen Borschtsch, aber ordentlich dick und heiß! Dampfen muss er, dass einem der Schweiß auf der Stirn steht wie Tau, und zwar nach dem dritten Löffel! Etwas mehr Schmand wäre auch nicht schlecht! Und Pompuschki mit Knoblauch! Davon riecht man aus dem Mund? Ich habe nicht vor, nach dem Essen irgendjemanden zu küssen! Als zweiten Gang bringen Sie mir von der Gans! Gans mit Äpfeln! Ich liebe Gänsefleisch! Was für einen Wein haben Sie da? Nur süßen? Dann bringen Sie mir Gorilka! Wie viele Scheiben Brot? Was denn: Werden bei euch die Scheiben abgezählt? Eine Scheibe zwei Griwna? Na, dann seien Sie mal nicht knickerig! Aber nur Schwarzbrot! Das duftet bei euch in der Ukraine immer so herrlich, Irina!“

Die Kellnerin trägt ihr Namensschildchen an das rote Kleid geheftet. Im Süden der Ukraine muss man die Kellnerinnen mit ihrem Vornamen anreden. Eine namenlose Kellnerin in diesen Breiten – das wäre blanker Unsinn. Sie müssen in persönlichen Kontakt zu ihr treten, Sie sind geradezu verpflichtet, ihr Herz und Seele anzutragen, dann wird sie losrennen und Sie flink bedienen. Und wenn sie losrennt, müssen Sie ihr unbedingt hinterhergucken und ihre Beine begutachten. Eine südukrainische Kellnerin trägt unglaublich kurze Röcke, die so knapp ihre Hüften umspannen, dass alles Verborgene offenbar wird. Sie weiß das, und wenn Sie ihr nicht auf die Beine schauen, wird sie Sie für einen unhöflichen Mann halten. Doch der Rückzieher folgt auf dem Fuß. Wenn Sie aufdringlich werden oder – noch schlimmer – ihr einen Klaps auf den Po geben, wird sie Sie für einen Flegel halten und Sie keines Blickes mehr würdigen.

Ein toller Ferienort

Die Fotografin Oksana und ich sitzen zu zweit im ersten Restaurant des tollen Ferienorts Kirillowka am Asowschen Meer. Wie, Sie haben noch nie von Kirillowka gehört? Vielleicht auch noch nie vom Asowschen Meer? Schauen Sie mal auf die Karte: Es ist ein Meer in Miniaturformat, das nördlichste Fitzelchen des Schwarzen Meeres. Mit seinen kleinen Wellen umspült es den großen Staub der Steppe. Wer hat dich, Asowsches Meer, hierher verbannt und für welches Vergehen, wer hat an deinem Ufer mit seiner salzigen Erde die schmalblättrige silbrige Ölweide gepflanzt, die wilde Verwandte der italienischen Olivenbäume? Doch ungeachtet der Abgeschiedenheit plätschern die Wellen des Asowschen Meeres türkisfarben unter südlicher Sonne – was Sie hier sehen, ist nicht die trübe Ostsee! Und die Strände in Kirillowka sind übersät von winzig kleinen, ganz hellen Muschelsplittern: Es knirscht so schön beim Laufen … Doch was, mit Verlaub gefragt, soll eigentlich so toll an Kirillowka sein? Ein elendes Nest! Es stimmt schon, in den Vorgärten wachsen Pflaumen, groß wie Veilchen nach einer Prügelei, verschiedenfarbige Äpfel und Birnen, es duften Rosen und Chrysanthemen, aber hier gibt es gar keine Villen, kein tiefes Meer – es ist flach wie die trübe Ostsee: Man läuft ewig weit und steht immer nur bis zu den Knien im Wasser. Es stimmt, in Kirillowka gibt es in der Tat keine Villen, und überhaupt glänzt es nicht durch Architektur; die Häuschen sind, um es geradeheraus zu sagen, Mist, mit Saint-Tropez nicht zu vergleichen, aber dafür werden auf dem Markt von Kirillowka unglaublich leckere Kartoffeln verkauft. Allein dieser Kartöffelchen wegen lohnt es sich hierherzukommen. Oder nehmen wir die Süßkirschen von einer Farbe wie die dunklen Augen ukrainischer Schönheiten – ein Geschmack und eine Saftigkeit, unbeschreiblich!

Nicht umsonst sagen die Händlerinnen auf dem Markt von Kirillowka: Die Ukraine hat Zukunft; mit ihrer Landwirtschaft wird sie der blühendste Staat in Europa. Mit der Zeit jedenfalls. Aber das ist die Ukraine; das Tolle an Kirillowka ist genau das, was auch das Tolle am Trabi ausmacht oder an unserem sowjetischen Kleinstwagen, dem Saporoschez. Das ist wie das Licht eines erloschenen Sternes – der authentische Glanz der Vergangenheit. Retroschick! Endgültig überzeugt war ich, als ich hier in Kirillowka dieses Wunderwerk der Technik auf der Straße erblickte: einen quietschgelben, 30 Jahre alten Saporoschez. Mein Gott, der reinste Kinderwagen! Die Leute fotografierten sich gegenseitig, an den Saporoschez gelehnt, mit ihrem Handy – eine Dauerattraktion! Vor einem Ferrari hätte sich keiner ablichten lassen. Übrigens, Ferraris sieht man in Kirillowka nicht. Noch nicht.

Die Harfen des Paradieses

Jeder Ferienort hat einen Abglanz des Paradieses an sich. Der Traum von seliger Unsterblichkeit, die jeder auf seine Weise versteht, existiert auch in Kirillowka, wo die Uhr den Morgen meiner Kindheit anzeigt: das Horn der Pioniere und Griesbrei zum Frühstück. Die Besonderheit Kirillowkas besteht darin, dass es überhaupt nicht prätentiös ist und nichts anderes sein will als das, was es ist. Es ist einfach da. Im Unterschied zu Miami, Acapulco und Deauville, den Schweizer Wintersportorten, diesen ganzen internationalen Fünfsterneparadiesen, gebaut auf Luxus, Prestige und Eitelkeit, ausgestattet mit überirdischer Schönheit, ist Kirillowka ein Schmutzfink, ein süßes Aschenputtel, eine Göre im Badeanzug und mit sich schälender Nase.

Hierher kommen denn auch hauptsächlich unscheinbare Leute, die sich durch nichts Besonderes im Leben auszeichnen, die irgendwie über die Runden kommen, unauffällige Leute, besagte Aschenputtel sehr lokalen Kalibers. Sie kommen in altersschwachen Bussen, die schwarzen Qualm durch ihre Auspuffrohre ausstoßen, über eine holprige Straße hierhergerumpelt. Unterwegs fahren die Urlauber an weißem Akaziengebüsch vorbei, der Fahrer hält, und der ganze Bus stapft geschlossen zum Pinkeln hinein, wobei alle die Füße ganz hoch heben. Danach stehen sie an der Bustür, rauchen gierig inhalierend eine Zigarette. In den Dörfern, die längs der Straße liegen, passieren sie Schaukästen aus vertikalen Holzrahmen mit dazwischen gespannten Schnüren, die an ein großes Instrument erinnern; ein ländlicher Verwandter der Harfe, der einem anstelle von Tönen hiesigen Dörrfisch in verschiedensten Größen präsentiert. Hauptsächlich handelt es sich um die Meergrundel, einen kleinen Fisch mit steiler Stirn. Die Leute bezeichnen alle zu Dörrfisch verarbeiteten Fische mit einem einzigen Wort: Wobla.

Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 80. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 80

No. 80Juni / Juli 2010

Von Wiktor Jerofejew und Oxana Juschko

Wiktor Jerofejew, Jahrgang 1947, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Russlands. Er ist regelmäßiger mare-Autor. Das genaue Beobachten lolitahaften Gebarens ist bei ihm als Herausgeber Nabokows gewissermaßen berufsbedingt.

Oksana Juschko beendete 2005 ihr Journalismusstudium und lebt in Moskau. Sie ist derzeit eine der erfolgreichsten jungen Fotografinnen Russlands.

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Vita Wiktor Jerofejew, Jahrgang 1947, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Russlands. Er ist regelmäßiger mare-Autor. Das genaue Beobachten lolitahaften Gebarens ist bei ihm als Herausgeber Nabokows gewissermaßen berufsbedingt.

Oksana Juschko beendete 2005 ihr Journalismusstudium und lebt in Moskau. Sie ist derzeit eine der erfolgreichsten jungen Fotografinnen Russlands.
Person Von Wiktor Jerofejew und Oxana Juschko
Vita Wiktor Jerofejew, Jahrgang 1947, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Russlands. Er ist regelmäßiger mare-Autor. Das genaue Beobachten lolitahaften Gebarens ist bei ihm als Herausgeber Nabokows gewissermaßen berufsbedingt.

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