Strandräuber

See-Elefanten erobern die Küste Kaliforniens. Die Menschen müssen zurückstecken

Bizarre Szenen spielen sich am Strand ab. Schwere Kolosse, die dem Meer entsteigen, werden von den Badegästen behandelt, als seien sie geduldige Lämmchen im Streichelzoo; Kinder werden von ihren Müttern zur Positur für’s Gruppenbild mit Zweieinhalb-Tonnern getrieben: „Geh’ noch ein bisschen näher ran!“

Die See-Elefanten von San Simeon bleiben in der Regel brav liegen. Sie verhalten sich, wie man es von gemütlichen Dicken erwartet. „Nur selten lassen sie sich aus ihrer faulen Ruhe aufstören“, wusste schon Alfred Brehm. „Man nennt sie sanft und verträglich, weil man nie gesehen hat, dass sie auf einen Menschen losgegangen wären, welcher sie nicht vorher lange gereizt hatte.“

Doch manchmal reißt selbst bei See-Elefanten der Geduldsfaden. Ein Strandbesucher robbt über den weißen Sand an einen alten Bullen heran. Als der aufdringliche Tierfreund sich auf zwei Meter genähert hat, öffnet der Koloss dumpf brummelnd sein Maul und bläht dabei den Nasensack auf doppelte Fußballgröße auf. Das genügt. Kaum hat er in die rosige Mundhöhle geblickt, krabbelt der Mann rückwärts.

Die Bucht von San Simeon liegt direkt am Highway No. 1 zwischen San Francisco und Los Angeles. Früher waren dort braungebrannte Wellenreiter und knappe Bikinis die Hauptattraktion. Doch seit einigen Jahren müssen Surfer, Schwimmer, Sonnenbader, Picknickgesellschaften und Spaziergänger für See-Elefanten Platz machen. Jeden Winter, wenn sie zur Paarung und zur Aufzucht ihrer Jungen an Land kommen, beanspruchen die kolossalen Speckwalzen mehr Strandfläche und erobern immer neue Buchten. Dabei beschränken sie sich längst nicht mehr auf die Robbenreservate, die die kalifornische Naturschutzbehörde entlang der Pazifikküste eingerichtet hat, sondern steuern immer häufiger öffentliche Badestrände an.

Bisher nehmen die Kalifornier es gelassen. An Wochenenden kommen sie in Scharen, um die Riesenrobben zu bestaunen. Manche Besucher sind so entzückt, dass sie nicht einmal der penetrante Fischgeruch davon abhält, sich an die dösenden Tiere anzuschleichen, um sie zu berühren. Das ist in doppelter Hinsicht waghalsig. Erzürnte See-Elefanten können sich dank ihrer gummigleichen Wirbelsäule blitzschnell nach hinten biegen, um unliebsame Grabscher abzuwehren. Zusätzlich riskiert jeder, der sich in Kalifornien einer Rüsselrobbe auf weniger als fünf Meter nähert, 10000 Dollar Strafe. Das gebietet der „Elephant Seal Closure Act“. Beides kann die Streichellust der Elefantenrobben-Verehrer jedoch nicht bremsen.

See-Elefanten sind so beliebt wie dicke Opernsänger, Nilpferde oder dralle Rubens-Engelchen. Dickleibigkeit schafft Vertrauen. Fette Tiere, nette Tiere. Früher, als sie noch häufiger in deutschen Zoos ausgestellt wurden, kannte die ganze Stadt ihre Namen. Berlin hatte seinen „Roland“, Hamburg seinen „Goliath“ und Stuttgart seinen „Tristan“. Seit die Augsburger Puppenkiste Max Kruses „Urmel aus dem Eis“ inszenierte, wohnt ein trauriger See-Elefant (bei Kruse heißt er Seele-Fant) in den Herzen ganzer Generationen. Die depressive Robbe mit dem Sprachfehler sang selbst an sonnigsten Tagen schwermütige Lieder. „Oh Wolkön, Wönd und rauö Söö, uns ist ums Hörz so söltsam wöh.“ Wer könnte das vergessen?

In früheren Jahrhunderten hegten die Menschen weniger sentimentale Gefühle gegenüber Meeressäugetieren. Nördliche (Mirounga angustirostris) und Südliche (Mirounga leonina) See-Elefanten wurden zu Tausenden abgestochen und zu Tran verkocht. „Der Mensch“, schrieb Brehm, „stellt dem See-Elefanten überall nach, wo er ihn findet.“ Mit Tran konnte man damals viel Geld machen, denn Tierfett war der Schmierstoff der industriellen Revolution. Das führe, so Brehms Prognose, die Riesenrobben „dem sicheren Untergang entgegen. Die armen Tiere können sich vor ihrem grausamen Feinde nicht einmal in die unzugänglichen Teile des Meeres zurückziehen wie die Walfische: Sie müssen ausharren, bis das letzte Stück der Vertilgungswut des abscheulichen Raubtieres, Mensch genannt, erlegen sein wird“. Im Falle der nördlichen Art, die an der Westküste Nordamerikas lebt, wurde die düstere Prognose des Tierforschers beinahe wahr.

See-Elefanten zu töten war ein leichtes Spiel. Die Fänger provozierten die Tiere, damit sie sich aufrichteten. Dann stachen sie ihnen eine Lanze ins Herz. Anfang des 19. Jahrhunderts berichteten Robbenjäger, dass ein einziger Mann in einer Stunde zwanzig Tiere töten konnte. Mitte des Jahrhunderts waren die Kolonien bereits so zusammengeschmolzen, dass es schon als Erfolg galt, wenn eine Schiffsbesatzung während der gesamten Fangreise ein- bis zweihundert Rüsselrobben erlegte.

Gegen Ende des Jahrhunderts hatten nur noch einige Dutzend Nördliche See-Elefanten auf der kleinen Insel Guadelupe 250 Kilometer vor der Küste Südkaliforniens überlebt. In letzter Minute stellten Mexiko und die Vereinigten Staaten die Riesenrobben unter Schutz. So begann eine der großen Erfolgsgeschichten des Artenschutzes. Die Tiere vermehrten sich prächtig und eroberten ihre angestammten Inselstrände wieder zurück. Schließlich, als alle Eilande vor Kalifornien und der Baja California wieder von Elefantenrobben bewohnt waren, wichen immer mehr aufs Festland aus. Heute gibt es wieder circa 150000 Nördliche See-Elefanten. Der Zoologe Burney Le Boeuf von der University of California at Santa Cruz rechnet damit, dass bis zum Jahr 2000 der Bestand auf 250000 Tiere anwachsen wird.

Le Boeuf erforscht die Rüsselrobben seit 1968. Er begann mit der Beobachtung der Paarungskämpfe und probierte dabei alle möglichen Varianten aus, um die Tiere zu markieren, vom farbgefüllten Feuerlöscher bis zur Spritzflasche mit Haarbleiche. Heute kleben die Biologen aus Le Boeufs Team den Tieren sogar Tiefenmesser und Sender auf das Fell. Im Januar, nach der Wurf- und Paarungszeit, verschwinden die Robben mit den High-Tech-Utensilien ins offene Meer. Im Frühjahr, wenn sie zum Haarwechsel an Land kommen, pflücken die Forscher ihre Messgeräte einfach wieder ab.

Als Le Boeuf das erste Mal die Aufzeichnungen eines Tiefenmessers las, den eine Rüsselrobbe wohlbehalten zurückgebracht hatte, glaubte er, das Gerät sei defekt. Heute, nach über siebzig Auswertungen, ist klar: See-Elefanten haben die Pottwale als Rekordhalter im Tieftauchen entthront. Bei einem Weibchen zeigte das Messgerät 1265 Meter an. Die an Land so ungelenken Kolosse sind unter Wasser torpedoschnell und überaus elegant. Sie können über eine Stunde lang tauchen, ohne zu atmen. Obendrein unternehmen sie die längsten Wanderungen von allen Robben.

Während der Monate, die See-Elefanten auf dem offenen Meer verbringen, schwimmen sie die meiste Zeit unter Wasser. Andere Robben und selbst Wale müssen in wesentlich kürzeren Abständen an die Oberfläche zurück, wo sie sich von den Strapazen des Tauchens erholen. Sie dümpeln auf den Wellen, bauen dabei Milchsäure in den Muskeln ab und speichern neuen Sauerstoff im Blut. See-Elefanten gönnen sich solche Erholungspausen höchst selten. Nach kurzer Atempause tauchen sie erneut. Solche Kraftakte, so fanden die Forscher heraus, sind nur möglich, weil die Riesenrobben unter Wasser ihre inneren Körperprozesse drosseln. Nur die allernotwendigsten Funktionen, wie Herz und Hirn, laufen auf vollen Touren. Die Verdauungsorgane fallen während der aufreibenden Tauchgänge in eine Art Winterschlaf. Diese enorme körperliche Belastung bezahlen die Nördlichen See-Elefanten mit einem frühen Tod. Ein vierzehnjähriger Bulle ist schon ein Methusalem.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 3. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 3

No. 3August / September 1997

Von Michael Miersch und Heidi & Hans J. Koch

Heidi & Hans-Jürgen Koch befassen sich in ihrer Arbeit intensiv mit Tierthemen. Sie sind Mitglieder der Agentur Bilderberg.

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