Störanfällig

(K)Ein Stör-Faktor: Ein Kaviarhändler lässt Fische für den luxuriö­sen Rogen in seinen Teichen in Schleswig-Holstein reifen

Wie faszinierend diese Stunden doch waren! Damals, als der fünfjährige Christian an regentrüben Tagen seine selbst aufgezo­genen Fische im Aquarium beobachtete, Schleien, Grundeln und Stichlinge. Seinen Kopf auf beide Hände gestützt, sah er sie durch Gräser wandern, in Höhlen aus Stein verschwinden oder an der Wasseroberfläche Futter fressen.

Heute ist Christian Zuther-Grauerholz 57 Jahre alt und studierter Agrarwirtschaftler. Als einer von zwei Geschäftsführern leitet er den Kaviarproduzenten Dieckmann & Hansen, 1869 gegründet, mit Sitz in Hamburg. Sein Job: Tausende Störe erst über mehrere Jahre aufziehen und beobachten, um deren Eier dann  als Kaviar zu verkaufen. 

Gerade steht er, in Jägerkluft mit Filzhut auf dem Kopf, am Rand eines Quellenteichs im Aukruger Naturpark, inmitten Schleswig-Holsteins. Mit Schwung wirft Zuther-Grauerholz ein Thermometer in den runden Weiher und zieht es wieder heraus: 12,8 Grad Celsius. Hinter seinem Rücken dehnt sich hügeliges Weideland. Und ein glasklares, 20 mal fünf Meter großes Becken mit Sandboden. Der vom Quellgewässer gespeiste Teich misst 13,3 Grad. „Kalt genug. Wir können die Störe umsetzen!“, ruft Zuther-Grauerholz seinem Sohn Willi zu. Willi, 23 Jahre alt und ein Bär von einem Mann, nickt aus 100 Meter Entfernung von einem grünen Fendt-Traktor herab.

Immer dieses Umsetzen, dazu noch in dieser so fremden Umgebung. Stress für die Störe! Ihr eigentliches Zuhause nämlich liegt weit ab vom Aukruger Na­tio­nalpark. Ihre Heimat ist das Kaspische und das Schwarze Meer, das Wolga- und das Donaudelta, wo sie normalerweise ­laichen, seit 250 Millionen Jahren schon. Störe sind nach den Haien die ältesten Fische der Weltmeere. Sie haben Dinosaurier kommen und gehen sehen, Eiszeiten überlebt und möglicherweise gestaunt, als der Affe zum Menschen mutierte.

Auf ihre delikate Fracht, einst ein Armeleuteessen, aufmerksam wurden französische Köche zuerst am russischen Hof, wo man das Korn während üppiger Bankette servierte. Begonnen hat die ­große Gier auf das „schwarze Gold“ Mitte des 18.  Jahrhunderts. Heute, nach der Über­fischung der Störe und dem weltweiten Wildfangverbot von 2009 wird Kaviar nur noch von Tieren aus Zuchtanlagen gewonnen. Wie bei Zuther-Grauerholz im Au­kru­ger Naturpark. 

„Okay, umsetzen!“, ruft Willi einen Teich weiter weg. Der Bär schleudert ein Riesennetz über die Hälfte des Wassers und zieht es zusammen. Die Oberfläche beginnt zu brodeln. Hier ein Schwanz, dort ein Kopf, dazwischen meterlange, grau glänzende Rücken und gelblich-weiße Bäuche, sichtbar nur für Sekundenbruchteile. Nach einer Dreiviertelstunde schwimmen sie im Container auf einem roten Nissan-Geländewagen, der nun langsam zum klaren Sandbodenteich rollt. Dort öffnet Willi eine Klappe am Stahlbehälter, die Tiere sprudeln mitsamt ihrem Lebenselixier der neuen Heimat entgegen. Zuther-Grauerholz: „Umgesiedelt haben wir die fast schon schlacht­reifen Fische, damit deren Eier bei nun 13 Grad stabil bleiben. Nebenbei verflüchtigt sich im klaren Quellwasser auch noch unerwünschter Beigeschmack.“ 

Zwei Wochen später in Hamburg, bei Dieckmann & Hansen. Im Erdgeschoss des rot geklinkerten Firmensitzes fällt fahles Neonlicht auf hellen Betonboden. Darauf stehen sieben Edelstahltische. Zwischen ihnen: Christian Zuther-Grauerholz, im weißen Kittel und Netzteil überm vollen Haar, und zwei Mitarbeiterinnen. Die Frauen reiben die Ovarien, die Eierstöcke, der vor zwei Monaten umgesetzten Osietra­störe über Siebe. Unten kullern die wertvollen Eier in Edelstahlschalen, je Tier etwa zehn Prozent ihres Eigengewichts. Die Mitarbeiterinnen spülen jetzt den Rogen vier-, fünfmal über einem Sieb mit klarem Wasser und vermengen ihn zur Haltbarmachung mit Lüneburger Salz. Anschließend reift er in 1,8-Kilogramm-Blechdosen mehrere Wochen lang bei minus vier Grad im Kühlhaus.

Dieckmann & Hansen verkauft Kaviar auch vom Beluga- oder vom Sibirischen Stör, aber dem Chef mundet der Osietra am besten: an Meerwasser erinnernd und ein wenig nussig. „Schon immer mein Favorit.“ 


Kaviar-Eier

Zubereitung (für vier Personen)
4 gut geputzte Eier mit einem kleinen Brotmesser am oberen Viertel aufschneiden, den Inhalt in eine Schale geben und mit 80 g Sahne und einem viertel Bund fein gehacktem Schnittlauch verquirlen. Mit Salz, ­Cayennepfeffer und Zitrone abschmecken. Die Masse in der Pfanne bei moderater Hitze cremig rühren, in die ­verbliebenen (großen) Eierschalen ­füllen und mit „Kaviar satt“ krönen. Bes­tens geeignet, um den Tag in aller Eleganz zu begehen. 
Zu kaufen gibt es den Kaviar von Dieckmann & Hansen in der Nieder­lassung in der Großen Elbstraße 210 in Hamburg, in den Filialen der Gastrokette Nordsee, über das Fischunter­nehmen Deutsche See oder online ­unter www.dieckmann-hansen.com.


mare No. 162

mare No. 162Februar / März 2024

Von Michael Dietrich und Achim Multhaupt

Achim Multhaupt wurde 1967 in Dortmund geboren. Er studierte Fotodesign an der dortigen Fachhochschule. Seine Schwerpunkte sind Porträtfotografie und Bildjournalismus, er arbeitet für nationale und internationale Magazine. Er lebt in Hamburg.

Michael Dietrich ist freier Journalist, schreibt gute Geschichten für gute Magazine und lebt in Hamburg.

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Vita

Achim Multhaupt wurde 1967 in Dortmund geboren. Er studierte Fotodesign an der dortigen Fachhochschule. Seine Schwerpunkte sind Porträtfotografie und Bildjournalismus, er arbeitet für nationale und internationale Magazine. Er lebt in Hamburg.

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Achim Multhaupt wurde 1967 in Dortmund geboren. Er studierte Fotodesign an der dortigen Fachhochschule. Seine Schwerpunkte sind Porträtfotografie und Bildjournalismus, er arbeitet für nationale und internationale Magazine. Er lebt in Hamburg.

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