Stell dir vor, das Schiff geht unter

Die Angst des Seemanns auf einem Tanker im Sturm

Heute Nacht könnte unser Schiff tatsächlich sinken. So ein schwerer Tanker taugt im Sturm nichts, wenn es hart auf hart geht. Vielleicht zerbricht er einfach. Wir können nichts tun, außer unsere Angst zu verbergen. Haben uns auf der Brücke versammelt und starren schweigend heraus in das Getöse. Niemand spricht, und ich werde nicht der Erste sein. Ich habe schon oft genug den Mund aufgemacht: wenn es Streit gab, wenn der Armenier das Geld nicht herausrückte, wenn wir einen Tag Ruhe wollten ... Immer ließen sie mich reden, jetzt reiße ich sie nicht aus ihrer kalt-schwitzenden Angst.

Du denkst immer: Mir passiert so was nicht. Auch auf dem Tanker denkst du dann im Sturm, Moment, das kann nicht sein, hier mag mancher sinken, aber ich doch nicht! Ich muss doch das Tappen meiner schwarzen Ausgehschuhe hören, wenn ich an Land gehe und die Straßen zaghaft auf mich zutreten. Ich sinke doch nicht, ich bin doch immer davongekommen, ich muss davonkommen, es gibt noch Zukunft, die ich in schlingernden Träumen gesehen habe. Ich sinke nicht! Das wusste auch dieses Mädchen im letzten Hafen: „Dann sehen wir uns im November.“

Der Armenier sagt etwas. Er flucht. Er meint wohl den Litauer. Der soll sich zusammenreißen. Lohnt das noch? Dieser Tanker ist nur dazu da, Tonnen voranzuschaffen. Ansonsten hilft nur beten. Der Litauer scheint tatsächlich ein Gebet zu wispern.

Das ist ja nicht mein erster Sturm. Im letzten Sturm habe ich versucht, James und dem Albaner Skat beizubringen, während der Armenier die Langsamkeit des Litauers verfluchte. Es war eine Katastrophe, dieses Spiel. Ob die beiden, die schon länger dabei sind als ich, da auch schon Angst hatten, weiß ich nicht. Vielleicht ist Skat einfach nichts für die beiden. „Don’t quite get this shit“, meinte James alle paar Minuten, bis der Armenier auch ihn anfuhr. Der Litauer haute immer dann die falsche Karte auf den Tisch, wenn ich gerade dachte, er hätte es kapiert. Aber da war es anders. Ich hätte beinahe lachen können über die Situation, und tat es nur mit Rücksicht auf die anderen nicht. Heute haben alle Angst. Die Wellen schnellen hoch wie ausgebreitete Hände, als suchten sie uns, um sich dann zu grausigen Fäusten zu ballen. Dieser Tanker ist hässlich, das Meer muss ihn hassen. Seine Klobigkeit verrät die Gier der Besitzer. Verloren hocken wir auf der Brücke, und mein Hass auf den Armenier weicht dem Mitleid, wenn ich noch etwas anderes fühle als Angst. Er kann sich immerhin einreden, etwas zu tun. James starrt ins Leere. Der Albaner weicht meinem Blick aus. Ich werde nichts sagen. Niemand sagt etwas. Selbst dem Armenier vergeht das Fluchen.

Wo ich herkomme, gibt es kein Meer, nicht mal einen großen Fluss. Auf den Rieselfeldern der Klärwerke fuhren wir im Winter Schlittschuh. Das Meer war so eine fixe Idee von mir, weniger ein Traum. Seemann, das sagte sich gut, wenn die Älteren einen fragten, was man denn mal werden wolle. Es war kein Traum, zur See zu gehen, nein, es war nicht mein Traum. Damals lachten die meisten mich aus, nur mein Vater, der immer zuerst merkte, wenn ich etwas ernst meinte, sagte: „Die Zeiten sind einfach vorbei.“

Es gibt diese Faszination, sich dem Meer zu nähern. Stück für Stück erreichst du es, alles tritt zurück, erst ersehnst du es, dann ahnst du es, schließlich riechst du es, und endlich, endlich spürst du, siehst du das Meer. Als ich die Lehre in der Tischlerei machte, fuhr ich am Wochenende oft ans Meer. Dann stand ich lange Zeit auf einem Deich, bis ich nur noch eine bittere, salzige, wahre Leere spürte, und manchmal sagte ich dann: „Seemann.“ Mein Vater fuhr in die Alpen, und er sagte: „Diese Art von Seefahrt gibt es doch gar nicht. Sei froh, dass du beim Willy untergekommen bist. Glaubst du etwa, du kannst in den Segeln rumturnen, oder was?“ Es war nie ein Traum, aber eine fixe Idee kann dir ein Lächeln schenken, die Wärme einer Vorstellung geben, während du hobelst, wenn du gelangweilt in der Disco der nächstgrößeren Stadt stehst.

So sterben? Blitze fressen sich durch den Raum, der den Himmel bedeutet. Im Getöse flimmern uns noch die Augen. Das Hin und Her, als hätten sich unter uns sämtliche Monster versammelt, erinnert an nichts. Der Sturm neulich war dagegen eine Skatrunde. Wir werden sinken, oder nicht. Oder nicht? Keiner sagt mehr einen Ton, und niemand redet sich etwas ein.


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mare No. 27

No. 27August / September 2001

Eine Kurzgeschichte von Jochen Möller

Jochen Möller, Jahrgang 1970, Politologe und Islamwissenschaftler, lebt in Bonn. Seine Lieblingszeit am Meer verbrachte er im ägyptischen Alexandria, wo er ein Jahr Arabisch studierte. Er arbeitet vorwiegend als Musikjournalist

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Vita Jochen Möller, Jahrgang 1970, Politologe und Islamwissenschaftler, lebt in Bonn. Seine Lieblingszeit am Meer verbrachte er im ägyptischen Alexandria, wo er ein Jahr Arabisch studierte. Er arbeitet vorwiegend als Musikjournalist
Person Eine Kurzgeschichte von Jochen Möller
Vita Jochen Möller, Jahrgang 1970, Politologe und Islamwissenschaftler, lebt in Bonn. Seine Lieblingszeit am Meer verbrachte er im ägyptischen Alexandria, wo er ein Jahr Arabisch studierte. Er arbeitet vorwiegend als Musikjournalist
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