Spitzenstrumpf und Elefantenohr

Die auf dem Meeresboden lebenden Schwämme beeindrucken mit ihrer rätselhaften Schönheit. Sie sind aber auch die Lieblinge der Pharmaforschung. Denn sie hemmen Entzündungen, liefern Wirkstoffe gegen Krebs und machen sogar HIV den Garaus

Man könnte annehmen, Schwämme seien die langweiligsten Tiere überhaupt. Sie kleben fest am Meeresboden und tun nichts anderes als zu strudeln. Millionen feinster Flimmerhärchen schlagen im Inneren ihres porösen Körpers im Gleichtakt und erzeugen einen Strom, indem sie Wasser, Schwebstoffe und Nahrungspartikel einsaugen. Strudeln, strudeln, strudeln. Die Schwämme, lateinisch Porifera, sind die Stoiker der Ozeane. Sie hocken ein Leben lang am selben Fleck. Und das kann lange dauern, mehrere tausend Jahre. In der Disziplin Lebensdauer halten sie den Weltrekord. Selbst in Zeitrafferaufnahmen bleiben Schwämme die Ruhe selbst: Wenn man Glück hat, runzelt sich in zwölf Stunden ihr Körper ein wenig, eine unendlich langsame Zuckung sozusagen, mehr Lebensregung ist meist nicht zu sehen. Im Vergleich zum Schwamm ist ein Faultier eine geradezu aufgeregte Kreatur.

Werner E. G. Müller aber haben es die Schwämme angetan. Wahrscheinlich gibt es auf der Welt niemanden, der die Wassertiere besser kennt als er. Seit gut 30 Jahren erforscht er sie. Dass Experten die urzeitlichen Wesen heute als bedeutende Tiere betrachten, liegt nicht zuletzt an den Erkenntnissen, die Müller in all den Jahren hervorgezaubert und in Hunderten von Fachartikeln publiziert hat.

Weltweit soll es fast 10 000 Schwammarten geben. Manche prangen am Riff wie dickbauchige, fleischige Weinfässer. Manche kleben unter Steinen wie zerlaufener Camembert. Andere stehen dicht an dicht in dürren Wäldern langfingeriger Kreaturen. Schwämme leben in der nachtschwarzen Tiefsee und im sonnendurchfluteten Flachwasser der Küsten, gedeihen im Süßwasser des Baikalsees, sogar in der Trübe schmutziger Hafenbecken. In seinem kleinen Büro mit dem abgewetzten Schreibtischstuhl und Regalen voller alter Aktenordner steht ein Schrank. Darin hütet Müller einige seiner prächtigsten Schwämme – ein bräunliches Exemplar so dick und luftig wie ein Fladenbrot, Spongia officinalis, oder Euplectella, ein Glasschwamm, der zerbrechlich wirkt wie ein erstarrter Strumpf aus feinster Spitze. Müller hebt sie vorsichtig, fast ehrfürchtig. „Wunderschön, nicht wahr?“ In der Hand wiegt Euplectella schwer, ein festes, hartes Gerüst.

Wenn Müller aus dem Fenster schaut, dann blickt er nicht etwa auf Schiffe, Kräne oder eine Hafenmole. Weit drüben im Dunst liegen die Rheingauberge, als Strich in der Ferne der Funkturm auf dem Feldberg im Taunus. Zusammen mit mehr als zwei Dutzend Mitarbeitern erforscht Müller Schwämme weitab vom Meer. Er ist Professor für Physiologische Chemie an der Universität Mainz, sein Institut ist in einem schlichten Zweckbau aus Beton untergebracht. Abgesehen von den Schätzen in seinem Schrank deutet wenig auf die Meereslebewesen hin, denen er so viel Lebenszeit gewidmet hat. Die meisten Exemplare verschwinden in Labors, in Pipetten, Reagenzgläsern und kastigen Maschinen, grau wie Fotokopierer: Für seine Forschung braucht der Wissenschaftler die Ausstattung eines Biotechlabors.

Schwämme sind angefüllt mit einem ganzen Cocktail biochemischer Substanzen. Sie sind die Apotheken des Meeres, denn wer am Boden hockt, muss sich zur Wehr setzen, vor allem mit der chemischen Keule. Jede Schwammart besitzt ihren eigenen Überlebenscocktail – Glykoproteine als Gefrierschutz oder Toxine als Gifte, um Fressfeinde zu vergraulen. Selbst mit tödlichen Raspelzungen bewehrte Schnecken verschmähen die ausgeruhten Bodenbewohner, wenn sie ihre chemischen Krallen ausfahren. Überdies produzieren sie antibiotische Stoffe, die Bakterien daran hindern, die Außenhaut zu überwuchern, und sie setzen sich gegen Eindringlinge zur Wehr, die über das Einstrudeln in ihren Organismus gelangen.

Ein Kilogramm Schwamm pumpt und filtert am Tag eine Tonne Wasser. Und schon ein einziger Milliliter enthält mitunter 100 000 Bakterien, darunter eine gewaltige Menge potenziell schädlicher Keime. Eine solche Erregerfracht überlebt ein Organismus nur, wenn er einen ganzen Arzneischrank besitzt. Davon hatten schon Homers kriegerische Zeitgenossen eine Ahnung: Die antiken Kämpfer pressten Verbände aus Schwämmen auf blutende Schrunden und eitrige Wunden. Heute weiß man, dass viele dieser komplex gebauten Biomoleküle nicht nur Entzündungen hemmen, sondern auch das Tumorwachstum bremsen und sogar dem Aidsvirus HIV den Garaus machen.

Müller zieht eine Schreibtischschublade auf. Er holt eine kleine Arzneischachtel hervor, darin eine Tube Herpescreme aus Japan. Er faltet den Beipackzettel auseinander und tippt stolz auf das Kleingedruckte. „Müller et al.“ (Müller und andere) steht da zwischen fernöstlichen Schriftzeichen, eine Veröffentlichung von 1977. Damals hat er mit anderen Forschern den ersten großen Coup gelandet. Es gelang, das Molekül Ara-A aus einem Schwamm zu isolieren. Schon erste Tests machten klar, dass Ara-A die Erbgutvermehrung des Krankheitserregers lahmlegt. Und auch die wichtigste Bedingung für die industrielle Produktion des Herpesvirenkillers war erfüllt, der Nachbau des Naturstoffmoleküls im Labor. Denn da Schwämme Abwehrstoffe nur in homöopathischen Dosen enthalten, müsste quadratkilometerweise Meeresboden leergefegt werden, um auf eine für den Menschen wirksame Dosis zu kommen.


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mare No. 78

No. 78Februar / März 2010

Von Tim Schröder und Henrik Spohler

Trotz der Schönheit der Schwämme greift der Oldenburger Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, beim Baden lieber zu Exemplaren aus Kunststoff. Die kratzen weniger, findet er.

Fotograf Henrik Spohler, Jahrgang 1965, hatte in seinem Leben bisher nur Erfahrungen mit den Schwammspezies des Alltags gesammelt. Neben dem harmlosen, natürlichen Badeschwamm gab es den gemeinen, trockenen und artifiziellen Schultafelschwamm, der ja eine solide Gänsehaut verursachen kann. Die Schwammarten am Mainzer Institut aber versetzten ihn in kindliches Staunen: ein unzerbrechlicher gläserner Stab von fast drei Meter Länge und kaum einem Zentimeter Dicke? Die Tiefsee ist eben nicht unser Habitat – da sollte man sich das Wundern bewahren.

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Vita Trotz der Schönheit der Schwämme greift der Oldenburger Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, beim Baden lieber zu Exemplaren aus Kunststoff. Die kratzen weniger, findet er.

Fotograf Henrik Spohler, Jahrgang 1965, hatte in seinem Leben bisher nur Erfahrungen mit den Schwammspezies des Alltags gesammelt. Neben dem harmlosen, natürlichen Badeschwamm gab es den gemeinen, trockenen und artifiziellen Schultafelschwamm, der ja eine solide Gänsehaut verursachen kann. Die Schwammarten am Mainzer Institut aber versetzten ihn in kindliches Staunen: ein unzerbrechlicher gläserner Stab von fast drei Meter Länge und kaum einem Zentimeter Dicke? Die Tiefsee ist eben nicht unser Habitat – da sollte man sich das Wundern bewahren.
Person Von Tim Schröder und Henrik Spohler
Vita Trotz der Schönheit der Schwämme greift der Oldenburger Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, beim Baden lieber zu Exemplaren aus Kunststoff. Die kratzen weniger, findet er.

Fotograf Henrik Spohler, Jahrgang 1965, hatte in seinem Leben bisher nur Erfahrungen mit den Schwammspezies des Alltags gesammelt. Neben dem harmlosen, natürlichen Badeschwamm gab es den gemeinen, trockenen und artifiziellen Schultafelschwamm, der ja eine solide Gänsehaut verursachen kann. Die Schwammarten am Mainzer Institut aber versetzten ihn in kindliches Staunen: ein unzerbrechlicher gläserner Stab von fast drei Meter Länge und kaum einem Zentimeter Dicke? Die Tiefsee ist eben nicht unser Habitat – da sollte man sich das Wundern bewahren.
Person Von Tim Schröder und Henrik Spohler