Spielen mit der Invariante

Der Pariser Kurator Thomas Doubliez konzipierte eine Ausstellung mit Kunst und Fotografie zum Thema Horizont. Mit mare sprach er über die Erkenntnisse daraus und deren Grenzen

mare: Viele Ausstellungen TRageN den Begriff „Horizont“ im Namen, aber fast immer im übertragenen Sinn. Ihre aber befasst sich mit der Linie, die Erde von Himmel trennt, und das malerisch und fotografisch. Wie kam es dazu?

Thomas Doubliez: Ihre Entstehung war recht simpel. Drei großformatige Horizonte, die Gilbert Bellan in den 1920ern gemalt hatte, sollten mit zeitgenössischen Fotografien zum selben Thema in einen Dialog treten. Bellan verfolgte die Idee der Camus’schen Hochzeit von Himmel und Meer. Wir suchten dann nach dem, was uns dazu am relevantesten erschien: der Horizont, wie er gesehen wird zu einem bestimmten Zeitpunkt von jemandem, der ihn erlebt – die reine Tatsache der Fotografie also. Das nimmt nichts von der Absichtlichkeit, der inneren Landschaft und der Kreativität der Urheber. Schlimms­tenfalls könnten sie die Idee äußern, dass der Horizont nicht existiert, wenn er nicht gesehen oder fotografiert wird. Aber wäre das ein Vorwurf?

Sie erwähnen Albert Camus’ „Hochzeit des Lichts“. In diesem Essayband ­erzeugen Sinneseindrücke beim Schwimmen im Meer, die Camus beschreibt, ein Gefühl der Überschreitung des Horizonts, der Vermählung von Himmel und Erde, gewissermaßen der Hochzeit mit der Natur. Wonach haben Bellan und die Fotografen gesucht?

Bellan hat sich im Lauf seines Maler­lebens immer mehr von den Auftragshistorien­bildern entfernt, um sich mit dem universelleren Thema des Menschen in der Natur zu befassen. Er lebte in der Vendée, am Meer, und dort erfuhr er diese Verschmelzung mit der Meereslandschaft, die ihn umgab, Tag für Tag. Dieses Landschafts­erleben ist auch die Verbindung zu den ausgestellten Fotografien. Was die Fotografen angeht, so kann man davon ausgehen, dass es mindestens eine Absicht je Autor gibt.

Gibt es in den Bildern einen Grundkonsens darüber, was einen Horizont überhaupt ausmacht?

In einer Gruppenausstellung ist der Konsens das, was man am Ende sieht. Mit einem Titel wie „Horizont“ kann man jede Fotoreihe neu ausrichten, von Ro­dtschen­kos konstruktivistischen Paraden bis zu Kertész’ Akten, es wird immer zusammenpassen. Wir haben uns dafür entschieden, bei einer bestimmten Architektur der Welt zu bleiben, bei der ein Streifen Himmel und ein Streifen Meer in den Bildern vorhanden sind. Dann kommt die Rolle, die diesem Strich zwischen den beiden zugewiesen wird. Die Zwillingswellen von Bernard Plossu auf der Isleta del Moro wären banaler Zufall, wenn am Ende der Insel nicht ein Horizontstrich an die unveränderliche Ordnung der Landschaft erinnern würde. Umgekehrt wäre der Horizont am ­Schwarzen Meer von Vanessa Winship weniger bedeutsam, wenn nicht ein Pier unseren Blick dorthin lenken würde. Der Horizont ist hier die geometrische Invariante, mit der die Fotografen spielen – und wir mit ihnen.


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mare No. 161

mare No. 161Dezember 2023 / Januar 2024

Von Karl Spurzem  

Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.

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Vita Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.
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Vita Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.
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