Soweit die Flossen tragen

Die mysteriöse Wanderung der Süßwasseraale quer über den Ozean

Die Ansicht des Aristoteles über die Entstehung der Aale hört sich abenteuerlich an. „Ohne Zeugung, aus den Erddärmen" entstünden sie, bildeten „sich von selbst im Schlamm und in der feuchten Erde", behauptete der griechische Philosoph im vierten Jahrhundert vor Christus.

Doch lange Zeit konnte niemand wirklich beweisen, dass Aristoteles im Irrtum war. Den europäischen Aal hat bis heute niemand an seinem natürlichen Laichplatz im Meer beobachtet, dort dessen Eier gesehen oder gar eine frisch geschlüpfte Aallarve entdeckt. Die Wissenschaft hatte die Larven vor 1893, als der italienische Zoologe Giovanni Batista Grassi im Mittelmeer beobachtete, wie sich diese weidenförmigen Meereslebewesen zu Glasaalen entwickelten, sogar als Leptocephalus breviroshis für eine eigene Fischart gehalten. Der Name für die außergewöhnliche Larvenform des Aales ist bis heute geblieben: Leptocephalus.

In den Jahren 1908 bis 1910 untersuchte der dänische Biologe Johannes Schmidt Aallarven aus dem Mittelmeer sowie dem östlichen Nordatlantik. Die Larven aus beiden Meeresgebieten unterschieden sich nicht. Für Schmidt hieß dies: Alle Aale der europäischen Küsten, Flüsse und Seen haben einen gemeinsamen Geburtsort. Er vermutete ihn in den Tiefen des Atlantiks.

Fänge von Aallarven führten den Biologen von Europa aus immer weiter nach Westen. 1922 gelang es ihm, kleine Leptocephali, die erst kurz zuvor geschlüpft sein konnten, zu fangen. Dies war südöstlich der Bermudas, in der Sargassosee, einem Bereich des Atlantiks, der stets als einer der geheimnisvollsten galt, seit Christoph Kolumbus sich dort bei seiner ersten Überfahrt 1492, mitten im Atlantik, wunderte über „große Mengen Grases, das, aus Westen kommend, das Meer so dicht bedeckte, dass es den Anschein erweckte, als wäre das Meer eine einzige, ins Stocken geratene grüne Masse". Vier bis elf Millionen Tonnen des Seetangs Sargassum treiben nach Schätzungen in der Sargassosee auf einer Fläche von mehr als fünf Millionen Quadratkilometern. Vom Golfstrom im Westen und Norden sowie vom Nordäquatorialstrom im Süden wird die Masse im Uhrzeigersinn gedreht (siehe Grafik auf Seite 66). Seit Schmidts Entdeckung gilt die Sargassosee zwischen 20° und 30° Nord, 50° und 70° West als das Gebiet, in dem der europäische Aal (Anguilla anguilla) seine Nachkommen in die Weite des Atlantischen Ozeans entlässt.

Auch der amerikanische Aal (Anguilla rostrata), ein Verwandter der europäischen Art, laicht in der Sargassosee. Sein Laichgebiet erstreckt sich allerdings wesentlich weiter nach Südwesten und in den Golf von Mexiko. Doch ebenso wie der europäische konnte der amerikanische Aal noch nie beim Laichgeschäft beobachtet werden.

Beide atlantische Arten dringen in das Süßwasser der nördlicheren und kälteren Zonen vor - eine Ausnahme, denn Aale sind im allgemeinen Warmwasserfische. Die Arten aus der Familie der Süßwasseraale (Anguillidae) kommen nicht nur im Atlantik, sondern auch im Pazifischen und Indischen Ozean vor, wo insgesamt 16 Arten und Unterarten bekannt sind. In früherer Zeit, als die Kontinente Europa, Afrika und Amerika noch nicht getrennt waren, hatten die atlantischen und indopazifischen Aale über das „alte" Mittelmeer, die Tethys, eine Verbindung. Schmidts Arbeiten waren bahnbrechend, aber die genaue Lage des Laichgebietes der Aale in der Sargassosee konnte auch er nicht lokalisieren. 1979 gingen Expeditionsteams des deutschen Meeresbiologen Friedrich-Wilhelm Tesch mit den Forschungsschiffen Anton Dohrn und Friedrich Heincke gleich zweimal auf die Suche. Immerhin einen bedeutenden Teilerfolg konnten sie erzielen: Erstmals wurden auch kleinere Aallarven mit Körperlängen von vier bis sieben Millimetern gefangen.

Auswertungen der Längen und des Alters gefangener Aallarven sowie theoretische Berechnungen ergaben, dass die Länge einer frisch geschlüpften Aallarve bei 3,3 Millimetern liegt. Larven unter sieben Millimetern werden auf ein Alter von etwa 14 Tagen geschätzt. Somit war Tesch dem Laichgebiet sehr nahe gekommen, das die Experten nun, anders als zuvor, im Süden der Sargassosee vermuten. 1993 starteten Wissenschaftler des Kieler Instituts für Meereskunde die bisher letzte Expedition in die Sargassosee. Mit an Bord ihres Forschungsschiffes: das Tauchboot Jago des Meeresforschers Hans Fricke vom Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen. Doch auch seine Abstecher in die Tiefe brachten nicht den gewünschten Erfolg.

So kann die Forschung bis heute nur auf indirekte Beobachtungen zurückgreifen, wenn sie die genauen Koordinaten des Laichortes oder auch seine Wassertiefe bestimmen will. Von Europa abwandernde Aale, mit Ultraschallsendern versehen, wurden bei Wassertemperaturen um 17 Grad Celsius beobachtet. Tiere, bei denen die Laichreife künstlich mit Hormonen herbeigeführt wurde, bevorzugten dagegen 19 bis 23 Grad Celsius. Diese Temperaturen herrschen in der Sargassosee 100 bis 300 Meter unter dem Meeresspiegel - die Tiefe, in der sich auch die Larven aufhalten. Dort unten, so meinen daher die Forscher heute, laicht der Aal.

Im Frühjahr, ab März, treten an dieser Stelle die sehr jungen Leptocephali in größeren Mengen auf. Noch ein Jahr später sind viele von ihnen erst in der nördlichen Sargassosee angekommen. Wahrscheinlich halten die örtlichen Strömungsverhältnisse mit zahlreichen kleinen Wirbeln die Aallarven unterschiedlich lange gefangen. Erst im Norden können sie vom Golfstrom erfasst werden, in dem sie fortan weitgehend passiv Richtung Europa treiben. Nur geringfügig können sie sich auch auf- und abbewegen. Ihre weidenblattartige Körperform ist dieser Bewegungsart bestens angepasst.

Zwei bis drei Jahre braucht die Aallarve, bis sie Europa erreicht. Zwar queren die Tiere mit vorherrschenden Oberflächenströmungen den Atlantik, doch letztendlich kann weder mit dem Golfstrom noch mit den sonstigen Strömungen des Nordatlantiks alleine die Verbreitung der Aallarven über den europäischen Kontinentalschelf so recht erklärt werden. Hans-Dieter Bast und Beate Strehlow von der Universität Rostock kommen aufgrund ihrer Forschungsarbeiten über die Verbreitung von Aallarven zu dem Schluss, dass ein bemerkenswert großer Teil des Larvenbestandes zwischen Großbritannien und Norwegen hindurch auf den europäischen Schelf aktiv einwandert. Inzwischen sind die Larven gewachsen, so dass sie sich - so eine Vermutung - gezielter fortbewegen könnten.

Ebenfalls noch nahezu unerforscht ist die Wegzehrung der Aallarven. Da sie sich weitgehend frei treibend, pelagisch, fortbewegen, ist es wahrscheinlich, dass sie sich von Plankton ernähren. Håkan Westerberg vom Ozeanographischen Institut der Universität Göteborg in Schweden vermutet, dass die Leptocephali hauptsächlich von den Gehäusen der Appendicularien leben. Diese frei im Wasser schwimmenden Tiere des Meeresplanktons werden von einer mantelartigen Umhüllung geschützt, weshalb man sie auch Manteltiere nennt. Die Größe ihrer Gehäuse reicht von einem Millimeter bis zu einigen Zentimetern.

Damit wären sie in der jeweils richtigen Beutegröße für die wachsenden Leptocephali verfügbar, deren große Fangzähne die weichen Nahrungsorganismen wie Gabeln aufspießen könnten. Ein weiterer Vorteil: Appendiculariengehäuse sind, wie die Aallarven, durchsichtig, so dass sie die Tarnung beim Verdauungsvorgang nicht beeinträchtigten. Um ihren Nahrungsbedarf zu decken, schätzt Westerberg, bräuchten die Aallarven zehn Gehäuse pro Stunde.

Vor der Ankunft an den Küsten ist die Aallarve ausgewachsen: rund siebeneinhalb Zentimeter groß. Die Wandlung zum Glasaal beginnt, was grundlegende physiologische und verhaltensbedingte Veränderungen mit sich bringt. So schwebt der künftige Aal zum Beispiel nicht mehr irgendwo im Wasser, er lebt am Boden. Glasaale, das sagt schon der Name, sind nicht pigmentiert. Die Pigmentierung vollzieht sich nach und nach mit dem Übergang ins Süßwasser. Der dann vollständig pigmentierte junge Aal unterscheidet sich nur noch in der Größe vom erwachsenen.

Die Namensbezeichnungen für Aale sind vielfältig. Der Gelbaal ist der Aal, der im Süßwasser heranwächst, auch wenn er nicht immer die bezeichnende gelblich bis weiße Färbung aufweist. Als Silber- oder Blankaale werden Aale erst bezeichnet, wenn sie flussabwärts ins Meer abwandern, um letztendlich zu ihrem Laichplatz in der Sargassosee zu gelangen. Der Rücken der abwandernden Aale ist dunkel, der Bauch glänzt silbrig. Gut erkennbar sind die spitze Form des Kopfes und die großen Augen. Klein und unterentwickelt dagegen sind noch die Geschlechtsorgane, die ihre endgültige Reife wohl erst mit der Ankunft im Laichgebiet erlangen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 1. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 1

No. 1April / Mai 1997

Von Christina Hiegel und Kai Wieland

Von Christina Hiegel und Kai Wieland

Mehr Informationen
Vita Von Christina Hiegel und Kai Wieland
Person Von Christina Hiegel und Kai Wieland
Vita Von Christina Hiegel und Kai Wieland
Person Von Christina Hiegel und Kai Wieland